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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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Augen, ausgebreiteten Armen, offenen Handflächen, als würde ihnen die Zeit selbst eine Infusion von Mußestunden verabreichen. Das Leben im Freien lag ihnen im Blut. Wenn sie die hohen Bogen der Hauseingänge durchschritten, zogen sie instinktiv, aber überflüssigerweise den Kopf ein – jeden Raum, egal wie groß, empfanden sie als einengend und bedrängend, als unnatürliche Wendung nach innen. Sie verließen ihre Wohnungen um siebzehn Uhr und kehrten nach Mitternacht heim. Draußen war ihre Heimat, ihr Wohnzimmer, ihr Arbeitsplatz; die Häuser, die man ihnen zugewiesen hatte, waren nur Orte, an denen sie während der dunklen Stunden ihren Körper lagerten.
    Der junge Mann verlangsamte seine Schritte; er wurde von Leuten angehalten, die ihn begrüßten, ihm von der anderen Straßenseite winkten. Dies war sein Revier. In einer kleinen Galerie fand eine Eröffnung oder Vernissage statt, die, wie die nervösen Blicke der Gäste verrieten, von der Künstlergewerkschaft nicht abgesegnet worden war – solche Veranstaltungen konnten jederzeit gesprengt werden. Mit etwas Glück schlug sich der örtliche Spitzel erst einmal den Bauch voll und trank ein paar Gläser, bevor er die Securitate rief, was es den Leuten ermöglichte, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Da stand Leo, trank Rotwein aus einem Plastikbecher und unterhielt sich mit Ioana und Petrescu, dem Ikonenmaler. Petrescu fing über Leos Schulter meinen Blick auf, schien mich aber nicht zu erkennen. Ich sah Campanu, den Pathologen, rauchend und mit einer cremefarbenen Jacke über dem blauen Arbeitshemd aus dem Leichenschauhaus. Im Fenster hing ein großformatiges Gemälde mehrerer Arbeiter, die vor einem Hintergrund glänzender Flaschenzüge und Zahnräder Brot und Milch teilten.
    Ich hatte den jungen Mann mit dem scharlachroten Hemd aus den Augen verloren. Ein Schild mit dem Bild eines Karpatenbären hing ein paar Meter weiter weg über dem Eingang einer Kneipe. Ich musste mich beim Eintreten bücken, die Tür ließ sich nur mit Mühe öffnen. Ich fand mich in einer lauten, überfüllten und so niedrigen Bar wieder, dass ich die leberfarbene Decke mit dem Kopf streifte, wenn ich auf den Zehenspitzen stand. Die dicht darunter hängenden Rauchschwaden verhüllten die Gesichter der Trinkenden wie Gebirgsnebel. Das war der Qualm der Carpatis, Zigaretten, die die Lunge bei jedem Zug sprengten – man inhalierte den Rauch einer Carpati nicht, sondern kaute ihn. Jeder hier, ob jung oder alt, sah nach Boheme aus: Studenten saßen mit Rentnern zusammen, Arbeiter mit Hippies. Ich sah sogar – ein sehr seltener Anblick – Roma, die sich einen Tisch mit Nichtroma teilten.
    »Sie haben bei der Beschattungsausbildung der Securitate versagt – bitte erstatten Sie Ihrem befehlshabenden Offizier Bericht!«
    Ich fuhr herum. Da stand der junge Mann, in jeder Hand ein schaumiges Bier, und genoss seinen Mantel-und-Degen-Moment. Wir schüttelten uns die Hände und musterten einander von Kopf bis Fuß. Ich fand seine Mischung von Heiterkeit und Schalk auf Anhieb sympathisch. Er klappte ein verbeultes Zigarettenetui aus Zinn auf und bot mir eine Selbstgedrehte an: türkischer Tabak mit einer Prise guten, süßen Haschs. Leo hätte das »Bürostunden-Doping« genannt – man rauchte ein wenig, um das Tal des Tages sanft zu verlassen, nicht um sich zuzudröhnen. Der junge Mann hatte ein offenes Lächeln, herzlich und leicht belustigt. Wir waren uns noch fremd, musterten einander mit dümmlichem Grinsen.
    Seine Fingernägel waren lang und sauber. Er bemerkte meinen Blick und ließ seine Finger über die Saiten einer Luftgitarre gleiten. In seiner Brusttasche steckte ein Walkman, selten in Rumänien und vom Typ her selbst im Westen noch neu. Er zog eine Kassette aus der Innentasche. » John Cale – Paris 1919 «, sagte er. »Du magst?«
    Ich mochte. »Tut mir leid«, sagte er, nachdem wir ein paarmal von unserem Bier getrunken hatten. »Ich bin Petre, und ich freue mich, dich kennenzulernen.«
    Das Licht wurde gedämpft, in einer Ecke begann eine kleine Jazzband zu spielen. »Du magst Jazz?« Er war Anfänger im Englischen, ich im Rumänischen, und er fragte genau wie ich zunächst nach grundsätzlichen Vorlieben und Abneigungen. Ich kannte dieses Spiel: Man äußerte extreme Meinungen zu Themen, die einen nicht wirklich interessierten, damit das Gespräch nicht erlahmte. Ich spielte mit und verlieh meiner tiefen, lebenslangen Liebe zum Jazz Ausdruck. Petre nickte zufrieden

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