Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
…« Er lachte abfällig.
»Das wird vielleicht so sein, nachdem sie mit uns fertig ist, aber noch trifft das nicht zu …«
»Ich bin frei, weil ich bleibe. Die Entscheidung, zu bleiben und nicht zu gehen, macht mich frei – obwohl ich nicht weiß, was ich will, obwohl sie mich ständig überwachen und meine Stadt zerstören, obwohl sie mich daran hindern wollen, meine Musik zu spielen, obwohl ich meine Konzertprogramme immer im voraus absegnen lassen muss … Ich bin frei, weil ich beschlossen habe, nicht abzuhauen.«
Ich wusste keine Antwort darauf. Petre glaubte an die Qualität der tatsächlich gelebten Freiheit, nicht an ihre auf banale Entscheidungen verteilte Quantität: was man anzog, welche Putzmittel man kaufte, welchen Arzt man an seine Hämorrhoiden oder Zähne ließ. Aber blieb Petre angesichts der vielen Zwänge, die sein Leben bestimmten, etwas anderes übrig, als an das zu glauben, was er tat? Ich hatte selten etwas so Überzeugendes und zugleich so Unhaltbares gehört, etwas, das so gar nicht zu den Leben passte, die den Menschen hier offenstanden. Er vertrat eine Philosophie der Extreme, wie es sie nur unter extremen Bedingungen geben konnte, und sie war nur scheinbar idealistisch – genau genommen war sie pragmatisch. Wenn man sich nicht in der Breite entfalten kann, geht man in die Tiefe, und genau das hatte er getan: Die von ihm ersonnene Logik ersetzte Fülle durch Intensität. Petre hatte sich angepasst, indem er an eine Theorie der Freiheit glaubte, die den zahllosen Zwängen einen Sinn abgewann.
Petre war dreiundzwanzig, zwei Jahre älter als ich; er hielt sich schon jetzt an zu viele Glaubenssätze, obwohl sein Erfahrungshorizont eingeschränkt war. Während seines kurzen Lebens hatte er offenbar vieles erlebt, was ihn tief ernüchtert, zynisch und hart gemacht hatte. Trotzdem legte er eine für dieses Land ungewöhnliche Gelassenheit an den Tag. Er war hier noch deplazierter als ich, hatte sich aber optimal angepasst. Seiner Ausstrahlung nach schien er einer besseren Version dieses Ortes und dieser Zeit zu entstammen, einer Welt, die von Idealbildern unserer Persönlichkeit bevölkert wurde, unbefleckt von der widerwärtigen, von uns erzeugten Realität, die im Gegenzug uns selbst prägte. Das war mein erster Eindruck, und je besser ich Petre kennenlernte, desto mehr verfestigte er sich.
Er teilte sich eine Wohnung mit seiner Halbschwester, einer Ärztin. Seine aus der Landbevölkerung Transsilvaniens stammenden, früh verstorbenen Eltern hatten sich in Timișora zu Ingenieuren hochgearbeitet. Seine Großeltern hatten sich als Knecht und Magd auf dem Gut eines Adeligen verdingt und später in der ersten Kolchose gearbeitet. Petre war stolz darauf, dass seine Familie innerhalb einer Generation von bäuerischen Analphabeten zu Ingenieuren aufgestiegen war.
»Ich bin der Enkel von Landarbeitern und der Sohn von Ingenieuren, und nun spiele ich Gitarre. Im Laufe dreier Generationen sind wir von sinnloser Schufterei zu effizienter Technokratie und nun zu nutzloser Kunst vorangeschritten. Das nennt man Fortschritt! Gibt es in deinem Land etwas Vergleichbares?« Er lachte, zertrat seine Kippe unter dem Hacken, legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ich muss los. Wir zählen auf deine Hilfe. Du hast mit Vintul geredet, und wir werden dich bald um einen Gefallen bitten. Wir wären froh, wenn du bei unserem Projekt mitmachst.«
Petre umarmte mich, dann verschwand er. Ein Hauch von Leder, Patschuli und Tabak blieb zurück. Es ging schon auf dreiundzwanzig Uhr – ich war spät dran und wusste nicht, wo ich mich befand. Cilea hatte bestimmt selbst aufgeschlossen und meinen Kühlschrank geplündert. Ich war der einzige Mensch auf diesem kleinen Platz, und ich hörte irgendwo das Rauschen von Wasser, das ungefähr in die richtige Richtung zu fließen schien. Ich entschied mich für eine Seitenstraße und brach auf. Inzwischen war es so dunkel, dass ich mich nur am seltenen Schein einer Kerze oder Paraffinlampe in den Fenstern orientieren konnte. Dann klickte ein Sturmfeuerzeug. Die Flamme erhellte das Gesicht eines Mannes, der mich anstarrte, dann erlosch sie wieder. Ich hörte seinen Atem, roch seine Fahne, und als die Zigarette bei einem Zug aufglühte, erblickte ich den glänzenden Schirm einer Polizeimütze.
Hinter der nächsten Ecke hörte ich Stimmen. Lichtschein tanzte auf dem Kopfsteinpflaster, und Musik hallte in der Gasse.
Im nächsten Moment stand ich in einem feuchtfröhlichen
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