Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
kleinen Rotlichtviertel. Unterhalb einer Art Brücke, die zwei abbruchreife Gebäude miteinander verband, saßen junge Mädchen mit Gummischuhen und Miniröcken und lasen im Schein der Laternen in zerknitterten deutschen Zeitschriften. Betrunkene Soldaten standen herum und stritten miteinander; Bauarbeiter tranken aus Flaschen oder alten Gurkengläsern. Männer, die schäbige Anzüge und ausgefranste Krawatten trugen, zählten Geld, tauschten Packen von Geldscheinen und Zigarettenschachteln. Eine nagelneue Stereoanlage dudelte westliche Disco-Hits. Eines der Mädchen erhob sich benebelt, zog sich an einer bröckelnden Fensterbank hoch und streckte eine kleine, trockene Hand nach mir aus. Sie war kraftlos; ihre Finger packten mein Handgelenk, ihre lackierten, aber rissigen Fingernägel hinterließen auf meinem Arm Abdrücke, flach wie die von Vogelkrallen, und als ich weiterging, sank sie zurück. Sie hatte dunkle Ringe unter den tief eingesunkenen Augen, die hohlen Wangen waren mit Rouge geschminkt. Sie erinnerte mich an eine kaputte Puppe. Die Mädchen, die hinter ihr mit dem Rücken an einer Wand auf dem Boden saßen, wirkten wie Marionetten, die man am Rand eines Puppentheaters deponiert hatte. War es die Frau, die ich neulich im InterContinental gesehen hatte? Ja, ich war mir fast sicher – nur war sie jetzt noch weiter verfallen, und ihre Augen … wirkten noch fiebriger.
Bauarbeiter saßen in staubiger Arbeitskleidung da und kloppten Karten auf einer umgedrehten Kiste. Zwei hinter ihnen stehende Prostituierte hatten ihren Kopf auf ihre Schultern gelegt wie Escort-Girls in einem teuren Kasino. Niemand beachtete mich – ich hatte das Gefühl, durch den Traum eines Fremden zu wandeln. Die Leute sahen an mir vorbei, während ich durch diese Unterwelt spazierte, diesen innerstädtischen Limbus der Prostitution und Hehlerei; alles roch nach Langeweile, Krankheit, Missbrauch. Dazu der Gestank nach menschlichen Exkrementen und Erbrochenem, das Stöhnen von bezahltem Sex. Ich trat in Scheiße, lief über Scherben. Eine Gestalt tauchte vor mir auf. Der Polizist hatte mich verfolgt und dann irgendwie überholt. Er prüfte meine Papiere, notierte etwas in einem kleinen Buch und salutierte schließlich spöttisch und mit einem so zotigen Grinsen, als wären wir Komplizen, weil wir soeben eine verbotene Erfahrung gemacht hatten.
Ich ließ meine kotbeschmierten Schuhe draußen vor der Tür stehen und ging sofort unter die Dusche. Cilea hatte sich vor dem Fernseher auf dem Sofa zusammengerollt, auf dessen Lehne eine Schachtel mit teurer Schokolade stand. Sie sah lächelnd zu mir auf, machte mir Platz. Der Duft ihrer frisch lackierten Fingernägel hing in der Luft. Sie sah den neuesten James Bond auf Video; 007 erleichterte den Playboy-Psychopathen vor einem atemlosen Publikum gerade um Geld und amour propre .
Cilea drückte mir spielerisch einen Fuß auf den Schritt. Als sie merkte, dass sich nichts tat, stellte sie den Videorekorder auf Pause und holte Wein aus der Küche.
»Kennst du die anderen Musikstudenten?«, rief ich.
»Ich denke schon – aber ich höre nicht alle Vorlesungen …«
»Petre Sowieso – bist du ihm mal begegnet?«
»Es gibt mehrere Petres … Ist ein häufiger Name … Roten oder Weißen? Ich war heute Vormittag im Diplomatenladen.«
»Nein danke, ich hatte schon mehr als genug. Ich war mit Leo unterwegs.« Mir wurde bewusst, dass ich verraten hatte, Petre kennengelernt zu haben, und dies erklären musste. »Ich weiß nicht, wie er mit Nachnamen heißt – lange Haare, spielt Gitarre, sieht leicht abgedreht aus … Sagt dir das etwas?«
Cilea stand in der Tür, das schwarze Kleid, beim Aufstehen verrutscht, auf halber Höhe ihrer Oberschenkel. Sie runzelte die Stirn – versuchte sie, sich zu erinnern oder die Erinnerung zu verdrängen?
»Ach, du meinst den Gitarristen? Der Fakir persönlich …« Cilea lachte auf. »So nennen ihn alle. Die Mädchen stehen auf ihn, aber er ist angeblich nicht sehr an ihnen interessiert … Ich war im letzten Jahr mal in einem Konzert seiner Band. Warum?«
»Oh … ich bin am Atheneum vorbeigekommen und habe seinen Namen auf einem Konzertprogramm gelesen. Ich habe überlegt, hinzugehen. Ich habe sogar Karten gekauft … äh, nur eine … weil ich davon ausgegangen bin, dass du keine Lust hast.«
»Nein, eher nicht.« Cilea saß wieder auf dem Sofa, und Bond war wieder bei der Arbeit, erklomm im Smoking eine steile Felswand. Meine Sorge war überflüssig.
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