Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
zu beugen. Auch er hatte Pläne, was die Stadt betraf, und sie liefen auf eine komplette Vernetzung hinaus. Allerdings nicht durch verlorene Wege. Petre war ebenso wenig an Leos alten Reiseführern wie an den Tabula-rasa-Entwürfen von Ceaușescus Architekten interessiert. Er hatte etwas anderes im Sinn. Er nannte es Das Projekt oder Die Kooperative .
Ich besuchte gemeinsam mit Petre das neue Bukarest mit seinen Fabriken und Wohnblöcken, seinen austauschbaren Vorzeige-Vororten, das Gegenstück der alten Stadt aus den Führern und Baedekern, die Leo aus Trümmern und Erinnerungen barg. Aber diese neue Stadt besaß ihre eigene Schönheit und Würde und einen unerwarteten Heroismus: Hier versuchten Menschen, ein ganz normales Leben zu führen; sie schickten ihre Kinder zur Schule, ergänzten die staatliche Indoktrination jedoch durch häuslichen Unterricht in Naturwissenschaft, Literatur und Geschichte. Männer und Frauen, ausgelaugt von banaler und zwanghaft kontrollierter Arbeit, fuhren in unzuverlässigen Bussen nach Hause, wo sie mit leeren Regalen und Stromabschaltungen zurechtkommen mussten. Alte Leute versuchten, von ihrer mageren Rente zu leben, die Jüngeren kämpften darum, ein karges Mahl auf den Tisch stellen, eine Scheibe Brot zur Arbeit mitnehmen zu können. Jeder lebte mit knurrendem Magen und litt unter zermürbender Langeweile, war sowohl eine Welt als auch eine Epoche von Parteibonzen, Diplomaten, ausländischen Geschäftsmännern entfernt. Leos halbseidenes schönes Bukarest war für diese Menschen uninteressant, falls sie überhaupt davon wussten.
Man hatte private Vereinigungen ins Leben gerufen, die sich um Kranke und Hinterbliebene kümmerten, Medikamente und Babynahrung verteilten. Petre träumte davon, diese Gruppen zu einer gut organisierten Gegenwirtschaft zu vernetzen – eine, die die Mängel des Systems ausglich, ohne die Korruption des Schwarzmarkts weiter anzuheizen. Er baute eine sogenannte Kompetenz-Bank auf, in deren Rahmen Lehrer, Klempner, Ingenieure, Sanitäter und andere unverzichtbare Berufsgruppen sowohl ihre Zeit als auch ihre Fähigkeiten zur Verfügung stellten. Ein Lehrer sollte zwei Stunden unterrichten und im Gegenzug zwei Arbeitsstunden eines Elektrikers oder Klempners erhalten. Diese konnte er nutzen, tauschen oder horten, bis er sie brauchte. All das ohne Zinsen, ohne eine auf Bargeld oder Investitionen basierende Wirtschaft – die Währung würde in Zeit und Arbeit bestehen, und die zentrale Verwaltung würde einen Teil dieses Kapitals benutzen, um ein Wohlfahrtssystem für Kranke, Arbeitslose und Alte aufzubauen. Den Sozialfonds, wie Petre ihn nannte. Er träumte von einer Gesellschaft in der Gesellschaft, von einem riesigen Netzwerk, das sich über ganz Bukarest und schließlich über das ganze Land erstrecken würde. Im kleinen Maßstab wurde dies in Wohnblöcken und Dörfern schon praktiziert, aber es fehlte eine landesweite Koordination. Petre zeigte mir seine Pläne und Karten, nicht von Straßen oder Gebäuden, sondern von Menschen. »Klingt in meinen Ohren grässlich nach Kommunismus«, sagte ich, nachdem er mir letzte Woche im Biergarten des Karpatenbären alles erklärt hatte. Er nickte, erwiderte aber nichts, sondern zog nur an seiner Zigarette, blies Rauch in die Luft. »Nach einer Welt vor der Erfindung des Geldes«, fügte ich hinzu. Dieses Mal drehte er sich zu mir um und berichtigte mich: »Nach der Erfindung des Geldes. Danach .«
Außerdem veranstaltete Petre mit seiner Band Konzerte in abgedunkelten Lagerhäusern. Sie spielten vor Hunderten dicht gedrängter, schwitzender Studenten, die schlechtes Hasch rauchten und schales Bier tranken und die Samisdat-Songbooks und Bootlegs untereinander weitergaben, bis man die Kopien so oft kopiert hatte, dass die Musik nur noch ein undifferenzierter Brei, die Texte nur noch Schatten auf der Seite waren. Dies war das Bukarest, das übrig bliebe, wenn der Staat seine Abrisspläne umgesetzt und Leo seine Idealisierung beendet hätte. »Hiermit müssen wir beginnen, Leo – hiermit «, hatte Petre eines Abends nach einem Konzert zu ihm gesagt und auf die zahllosen mageren, schweißnassen Studenten gezeigt, die sich auf der provisorischen Tanzfläche in jenem Schlachthof drängten, in dem Fakir gespielt hatten. Hier roch alles nach Reinigungsmitteln und Blut. »Man muss mit dem arbeiten, was man hat, was es gibt. Wer sonst sollte das alte Bukarest erben, das du so liebst?«
Das war vor drei Wochen gewesen.
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