Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
»N-nein … nein … natürlich nicht.«
War sie eine übereifrige Lehrerin, auf der Jagd nach Schülern, die die Regeln brachen? Oder war sie ein Mitglied des Hexenzirkels und den Talisman? In beiden Fällen saß ich in der Falle. Sie stand jetzt so dicht vor mir, dass ich die dünnen Äderchen auf ihren Wangen sehen und das schwere, benommen machende Parfum riechen konnte, das sie benutzte. Ich musste weg. Ich geriet in Panik und öffnete die beiden obersten Knöpfe meines Hemdes, um ihr meinen bloßen Hals zu zeigen.
»Ich habe keinen Schmuck«, stammelte ich. »Ich habe gar nichts.«
Miss Dalrymples Gesicht erschlaffte kurz, als sie einen Schritt zurück machte; dann lächelte sie wieder.
»Natürlich nicht. Wieso solltest du auch?«
Sie ließ mich gehen. Ich zitterte, aber ich war in Sicherheit. Miss Dalrymple konnte unmöglich gewusst haben, dass ich erst wenige Sekunden, bevor ich die Marmorstufen hinuntergelaufen war, einem vagen Impuls gefolgt war und den Anhänger in einer dunklen Nische im alten Treppenhaus der Bediensteten versteckt hatte. Aber ich konnte ihn nicht ewig dort lassen.
»Du musst sehen, dass du mit den Ritualen weiterkommst, Evie«, drängte Helen mich. »Sieh nur, was dir mit der Dalrymple passiert ist. Sie könnte mit drinstecken. Ich bin mir sogar sicher, dass sie es tut. Wenn der Hexenzirkel herausfindet, dass du den Talisman versteckst, werden sie dich in die Enge treiben. Und Sebastian könnte jeden Tag angreifen.«
»Das wird er nicht tun!«
»Das weißt du nicht so genau, Evie.« Helen seufzte. »Es ist verdammt wichtig für uns, dass wir vorbereitet sind.«
»Ich bemühe mich ja! Ich arbeite jeden Tag mit dir und Sarah an den Ritualen. Es ist nur so, dass …«
»Was?«, fragte Sarah.
»Ich bringe einfach nichts zustande«, sagte ich. »Nicht mehr seit dem ersten Mal.«
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht hatte ich mir vorgestellt, dass ich in der Lage sein würde, einen Stab zu schwenken und Wunder zu vollbringen, die Uhren rückwärtsgehen zu lassen und alles mit Magie wieder zu richten. Aber so war es nicht. Ich konnte nicht auf dem Wind tanzen wie Helen, oder Leute heilen wie Agnes. Ich konnte gar nichts tun.
Ich hatte über dem Talisman gebrütet, ihn beschworen, ihn in meinen Händen herumgedreht und ihn mir wieder um den Hals gehängt, aber ich war nicht in der Lage gewesen, ihn aus seinem langen Schlaf zu erwecken. Und wenn Helen bei unseren geheimen Treffen den Kreis zeichnete, geschah mit mir gar nichts. Sarah dagegen ließ mich weit hinter sich. Sie wusste, wie sie die Beschwörungen ausgestalten musste, und wenn sie ihre Hände auf einen Erdhügel legte, der in einem Ritual im Innern des Kreises zerstört worden war, wuchs blitzschnell ein winziger grüner Schössling vor unseren Augen in die Höhe, wie in einem Film, den man im Zeitraffer sah. Ich hingegen war völlig nutzlos.
Und jetzt waren wir wieder hier, unten in der Höhle, und versuchten es noch einmal.
»Du musst nur Vertrauen zu dir selbst haben«, sagte Sarah. » Irgendwann wird es passieren.«
Sie sahen mich besorgt an, als ich meine Hände wie eine Idiotin über einer Schüssel mit Wasser bewegte, um zu versuchen, es in Dampf zu verwandeln, oder um Wellen hervorzurufen oder um es pinkfarben zu färben oder was auch immer man von mir erwartete …
»Öffne deinen Geist«, drängte Helen. »Fühle, wie dein Element dich ruft; mach dir seine Kräfte zunutze.«
»Ich kann nicht!«
Sie sah mich nachdenklich an. »Oder du willst es nicht.«
»Doch, ich will es«, rief ich. »Ich will es. Ich weiß, dass es wichtig ist.«
»Es geht nicht darum, dass du es weißt, Evie. Du musst es fühlen. «
Vielleicht war das das Problem. Ich wollte ja gar nichts mehr fühlen. Seit dem Tod meiner Mutter vor so vielen Jahren hatte sich etwas in mir verschlossen. Als ich älter geworden war, hatte ich mir selbst etwas vorgemacht – dass ich stark und unabhängig wäre und niemanden brauchen würde. Jetzt aber erkannte ich, dass ich einfach nur Angst davor gehabt hatte zu lieben; Angst davor, dass jeder andere Mensch, den ich lieben wollte, ebenso verschwinden könnte, wie meine Mutter verschwunden war. Dann war Sebastian in mein Leben getreten, und ich hatte meine schützende Rüstung abgelegt. Kopfüber hatte ich mich in die Liebe zu ihm gestürzt, aber Sebastian war weggegangen, und ich fühlte mich noch
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