Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
danach, bei ihm zu sein.
Ohne es wirklich zu merken, hatte ich neben den See eine Gestalt in einem langen dunklen Umhang gezeichnet. Ich sah mich um, erwartete halb, Sebastian an einem der Bäume lehnend zu finden, mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen.
Aber natürlich war er nicht da. Auf der anderen Seite des Rasens waren dunkle Büsche, die zu hohen, schmalen Silhouetten zurechtgestutzt worden waren. Dahinter endete der Garten, und die Moors begannen. Dann fiel mir etwas auf. Hoch oben auf dem Hang, der vom Garten anstieg, und zum Teil verborgen hinter einem wild wuchernden Gewirr aus Dornenbüschen, befand sich ein dunkler Steinblock. Und neben diesem Steinblock stand ein Mädchen, dessen helle Haare im Wind wehten.
»Helen!«, rief ich und sprang auf. Mein Zeichenblock fiel zu Boden. »Helen! Warte!«
Große Regentropfen fielen jetzt vom Himmel. Die Mädchen am See schnappten sich ihre Sachen und liefen halb murrend, halb lachend zur Hall zurück. Ich dagegen lief in die andere Richtung, denn ich wollte versuchen, das Mädchen besser sehen zu können. Plötzlich stand Miss Dalrymple vor mir und versperrte mir den Weg. Ich schrie auf, so überrascht war ich.
»Was ist los?«, fragte sie sanft. »Du läufst in die falsche Richtung – du wirst ja ganz nass.«
»Aber … aber ich habe Helen da oben auf dem Berg gesehen!«
Sie gab ein leises, glockenähnliches Lachen von sich. »Da oben ist niemand. Du bildest dir etwas ein, Liebes.«
Es stimmte. Niemand war zu sehen. Da war kein Mädchen, nur das Gewirr aus Dornenbüschen und der dunkle Felsblock sowie der Regen, der wie Tr?nen vom Himmel fiel.
»Evie!«
Ich drehte mich um und sah Miss Scratton groß und dünn in ihrem wehenden Regenumhang vor mir stehen. »Lauf zur Hall rüber, und komm aus dem Regen raus! Wir müssen uns unterstellen, bis der Bus da ist, ob das der Polizei nun gefällt oder nicht. Rasch!«
Sie scheuchte mich zum Haus hin, aber ich war mir nicht sicher, ob es ihr darum ging, dass ich aus dem Regen kam oder weg von Miss Dalrymple.
Als wir schließlich wieder in der Schule waren, erhielten wir erst einmal den Auftrag, uns trockene Sachen anzuziehen. Ich hastete in den Schlafsaal hoch, um mir eine saubere Bluse anzuziehen, dann ging ich zum Krankentrakt und klopfte an die Tür.
»Komm rein.« Die Krankenschwester sah von ihrem Tisch hoch. »Ja, was ist?«
»Äh …ich bin gekommen, um mich nach Helen zu erkundigen. Wie geht es ihr?«
»Sie hat sich den ganzen Tag nicht wohl gefühlt. Es scheint so, als hätte es sie richtig erwischt.«
»Dann ist sie den ganzen Tag nicht draußen gewesen?«, fragte ich und versuchte, an ihr vorbei einen Blick auf die Patientin werfen zu können. »Nicht einmal, um ein bisschen frische Luft zu schnappen?«
»Das glaube ich kaum, bei dem hohen Fieber. Und jetzt liegt sie im Bett.«
»Nun … dann … sagen Sie ihr bitte, dass ich hier war«, beendete ich das Gespräch etwas lahm und ging wieder. Das M?dchen, das ich gesehen hatte, musste also jemand aus dem Dorf gewesen sein. Die Wahrheit war, sagte ich mir, dass ich vor Ersch?pfung ganz benommen war. Ich beneidete Helen halb um ihr Bett im ruhigen Krankentrakt. Ich sehnte mich danach, endlich schlafen zu k?nnen, schlafen und schlafen und schlafen.
Aber noch nicht gleich. Ich hatte Sebastian versprochen, in dieser Nacht zu ihm zu kommen, und ich würde ein Versprechen, das ich ihm gegeben hatte, nicht brechen.
Wie ein Dieb heckte ich meinen Plan aus. Helen würde im Krankentrakt bleiben, also konnte sie mir wohl kaum in die Quere kommen. Als es nach dem Essen dunkel wurde, schlich ich zum Schuppen des Gärtners und ›lieh‹ mir eine Taschenlampe aus, damit ich mich nicht noch einmal in völliger Dunkelheit auf der Treppe wiederfinden würde. Oh, ich hatte alles geplant. Ich schwor mir, mir noch eine weitere gestohlene Stunde Glück mit Sebastian zu gönnen, dann würde ich vernünftig sein und endlich schlafen.
Dreiundzwanzig
A ber wieso nicht, Sebastian?«, fragte ich und starrte mürrisch auf den See hinaus. Nichts lief so, wie ich es mir vorgestellt hatte.
»Ich habe es dir doch erklärt.« Er seufzte. »Ich kann dich tagsüber nicht sehen. Dies ist die einzige Möglichkeit, wie wir uns treffen können.«
»Ich könnte dich am Sonntagnachmittag treffen. Einige Mädchen haben die Erlaubnis, auszureiten oder spazieren zu gehen.«
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