Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
existierte. Sie war irgendwie ein Teil von mir.
Das war es, dachte ich in dem Versuch, mir die Sache vernünftig zu erklären. Das Mädchen mit den roten Haaren war ein Teil meines Unterbewusstseins, eine Version von mir, ein verborgener Teil meiner selbst, der versuchte mir zu sagen, dass ich vorsichtig sein sollte, was die Beziehung zu Sebastian betraf. Seine Weigerung, mich seiner Familie vorzustellen, hatte mich erschreckt, und dieses M?dchen und ihre Botschaft waren einfach nur irgendeine psychische Reaktion.
Allerdings hatte ich sie schon am ersten Tag gesehen, fiel mir ein, lange, bevor die Beziehung mit Sebastian angefangen hatte. Eine Beziehung. Was für ein unbeholfenes, hässliches Wort für etwas, das unmöglich in eine feste Form zu pressen war, sondern eher ein raffinierter Tanz zwischen zwei Menschen war, wie das Ziehen und Zerren der Wellen.
Ich bin nicht gut, wenn es um Beziehungen geht.
Das hatte Sebastian gesagt. War es diesmal sein Fehler, oder meiner? Eigentlich spielte es keine Rolle. Unsere Beziehung, was auch immer sie genau gewesen war, war jetzt vorbei. Ich war weggegangen, und sein Stolz würde ihn das nicht so einfach hinnehmen lassen. Wieso hatte ich nur auf so dämliche Weise meine Geduld verloren? Ich bedauerte es bereits. Und doch hatte er gesagt, dass er auf mich warten würde.
Es war spät am Sonntagabend. Ich fühlte mich besser, zumindest körperlich. Ein kühles Getränk stand auf dem Nachttisch. Gierig trank ich davon. Sonst war niemand da. Helen war in die Klasse zurückgekehrt; was auch immer sie hierhergeführt hatte, war jetzt überstanden. Als ich wach gewesen war, hatte sie geschlafen – oder zumindest so getan, als würde sie schlafen –, und so hatte ich keine Gelegenheit gehabt, mit ihr zu reden. Es spielte auch keine Rolle. Ich hatte Helen Black nichts zu sagen.
Langsam kroch ich aus dem Bett und ging zu dem kleinen Badezimmer hinüber, drehte den Hahn auf und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Als ich mich im Spiegel betrachtete, kam mir meine Haut noch blasser vor als sonst, so blass wie die eines viktorianischen Mädchens auf einem alten Gemälde.
Das Gemälde. Es war nicht nur eine psychische Manifestation. Es war das Portrait von Lady Agnes Templeton. Das war eine schlichte, unverrückbare Tatsache. Das Portrait sah aus wie das Mädchen, das ich gesehen hatte. Und es sah aus wie ich. Sollte das alles nur Zufall sein?
»Evie!«
Ich zuckte zusammen. Die Krankenschwester rief von der anderen Seite der Tür. Ich trocknete mir das Gesicht ab und verließ das Badezimmer. Sie hielt ein Thermometer in der Hand. »Ich bin nur gekommen, um deine Temperatur zu messen. Fühlst du dich schon besser?«
Ich war nicht krank, abgesehen von den schweren Gliedern und meiner Müdigkeit. Ich kroch zurück ins Bett.
»Ja, ich glaube schon. Wie spät ist es?«
»Beinahe neun Uhr. Die Mädchen haben bereits zu Abend gegessen.« Sie maß gekonnt meine Temperatur. »Ziemlich normal. Du kannst morgen aufstehen und in deine Klasse zurückkehren. Wobei mir einfällt, dass deine Freundin darauf brennt, dich zu sehen. Sie wartet gerade draußen. Soll ich sie reinlassen?«
Ich nickte. Die Krankenschwester ging weg und sprach in ihrem kleinen Büro mit jemandem. Ich wartete besorgt, rechnete halb damit, dass das rothaarige Mädchen hereinkam und dabei das lange weiße Kleid hinter sich herzog. Aber es war Sarah, die fröhlich und real war.
»Sarah!« Ich schnappte vor Erleichterung nach Luft.
»Wie geht es dir?«, fragte sie. »Ich habe dir hier was mitgebracht. «
Es war eine zarte Pflanze in einem kleinen Topf. Die Blüten leuchteten in einem fast unglaublich hellen Blau.
»Danke. Die ist wunderschön.«
»Sie ist nicht von mir. Helen hat sie bei der Ruine gefunden. So etwas wächst dort wild. Sie hat mich gebeten, dir die Pflanze zu geben und dir zu sagen, dass es ihr leidtut. «
»Was tut ihr leid?«
»Dass sie Miss Scratton gesagt hat, dass du in der Nacht damals nicht im Bett warst. Helen wollte dich wissen lassen, dass sie es getan hat, damit du nicht in noch größere Schwierigkeiten gerätst. Sie sagte, sie hofft, du würdest das verstehen.«
»Ich verstehe gar nichts. Ganz sicher verstehe ich Helen nicht.«
»Helen ist … anders«, sagte Sarah. »Nach allem, was ich mitbekommen habe, hatte sie bisher ein schweres Leben. Ich habe gehört, dass sie in irgendeiner Art Kinderheim gewesen ist,
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