Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
Mädchen saßen an einem der großen Tische und lasen. Eine von ihnen sah auf und runzelte die Stirn, als sie uns sah. »Habt ihr die Erlaubnis, hier zu sein?«
»Miss Scratton hat uns aufgetragen, etwas zu suchen, Emily«, log Sarah und ging zielstrebig zu dem Bereich, in dem die Geschichtswerke standen. Sie ließ ihren Blick über die vollen Regale schweifen und zog hier und da Bücher heraus, suchte ganz offensichtlich nach etwas.
»Was tun wir hier eigentlich?«, wollte ich von ihr wissen.
»Warte eine Sekunde … ah! Hier ist es.« Sie begann, in einem kleinen blauen Buch zu blättern. Es war alt und wirkte düster, kaum dicker als eine Broschüre. Eine kurze Geschichte der Abteischule Wyldcliffe von Rev. A.J. Flowerdew. »Das hier habe ich in meinem ersten Jahr in Wyldcliffe gefunden. Ich hab mich schon immer für solche Sachen interessiert. Es stammt vom örtlichen Vikar. Nicht demjenigen, den wir jetzt haben, sondern von einem anderen Kerl, der das vor vielen Jahren geschrieben hat. Warte einen Moment – hier, sieh mal!«
Sie drückte mir das aufgeschlagene Buch in die Hand. Ich sah nach unten und las leise:
»Das einzige noch existierende Portrait von Lady Agnes wird in der Abtei aufbewahrt. Es heißt, Lord Charles habe es in Auftrag gegeben, um den sechzehnten Geburtstag seiner Tochter im Jahr 1882 zu würdigen, zwei Jahre vor ihrem tödlichen Reitunfall, der sich nach einer längeren Reise auf dem Kontinent zugetragen hat. Der Künstler ist unbekannt.
Das Gemälde war auf der gegenüberliegenden Seite abgebildet, aber auf dem billigen Papier verschwammen die Farben ineinander. Dennoch war es ohne jeden Zweifel das Gesicht, das ich kannte ? die grauen Augen, die von einer wilden, kastanienbraunen M?hne umrahmt wurden, die langen, altert?mlichen Kleider.
»Ist dies das Mädchen, das du gesehen hast?«
Ich nickte langsam. Es war ein Reitunfall gewesen, hieß es. Ich hatte das Gefühl, als würde ich alles vollkommen deutlich vor mir sehen. Das Mädchen lag mit verrenkten Gliedern im violetten Heidekraut. Ein kastanienbraunes Pferd stupste sie mit dem Maul in ihre leuchtenden Haare, und ihre Augen starrten ausdruckslos zum Himmel, während über ihr Lerchen hin und her schossen.
»Sie ist gestorben«, sagte ich wie eine Idiotin. »Sie ist tot.«
Natürlich war sie das. Selbst, wenn sie einhundert Jahre alt geworden wäre, wäre sie jetzt schon seit langem tot.
»Sie sieht aus wie du, Evie. Ich wusste, dass du mich an jemanden erinnerst, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe.« Sarah runzelte die Stirn, während sie die verblassten Seiten musterte. »Ihr könntet Schwestern sein.«
»Aber wir sehen uns gar nicht ähnlich«, erwiderte ich in einem Anfall von Panik. »Nur, weil wir beide rote Haare haben …«
Emily starrte finster zu uns herüber. »Habt ihr beiden gefunden, was ihr gesucht habt? Ich würde mich gern konzentrieren.«
Sarah schob das Buch unter ihre Bluse, und wir gingen zur Marmortreppe.
»Wir müssen zum Krankentrakt gehen«, sagte sie, »wie wir zu Miss Schofield gesagt haben. Erzähl der Krankenschwester, dass dein Kopf noch weh tut, weil ich dich getroffen habe. Wenn sie auf die Idee kommt, dass du dich da ein paar Stunden hinlegen sollst, kannst du dieses Buch lesen. Du wirst ja sehen, ob da irgendwas Brauchbares f?r dich drin ist.?
Ich ließ mir sagen, was zu tun war. Die Krankenschwester maß meine Temperatur, gab mir ein Aspirin und befahl mir, mich in einem der Betten der Station auszuruhen. Helen schlief tief und fest am anderen Ende des Saals. Ich versteckte das blaue Buch unter meinem Kopfkissen. Ich musste es nicht noch einmal ansehen, um zu wissen, dass das Mädchen, das ich gesehen hatte, genau das gleiche war wie das auf dem Gemälde.
Lady Agnes.
Wenn Sarah Recht hatte, wurde ich von dem Geist eines toten viktorianischen Mädchens heimgesucht, das mir so ähnlich sah, dass wir für Schwestern gehalten werden konnten. Und sie warnte mich und riet mir, mich von Sebastian fernzuhalten.
Sechsundzwanzig
Das Tagebuch von Lady Agnes,
21. Dezember, 1882
S. ist vor fast drei Wochen aus London zurückgekehrt. Ich habe mich die ganze Zeit von ihm ferngehalten. Zwar habe ich mich danach gesehnt, ihn wiederzusehen, aber ich wollte keine Wiederholung unseres Streites. Gestern ist er dann unerwartet in der Abtei aufgetaucht und hat mich gebeten, mit ihm über die Moors zu
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