Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
bedeuten, wir halten uns streng an die Fakten, oder?«
Die Vorstellung, die beruhigend pragmatisch war, faszinierte mich. Vielleicht ging es bei dieser Sache wirklich um nichts weiter als alte Familienbande und das Wirken meines Unbewussten. »Aber ich weiß nicht einmal, wo wir anfangen sollen. Und Frankie kann ich nicht fragen. Sie ist zu krank, um mir helfen zu können.«
»Du könntest aber deinem Vater schreiben und ihn fragen. Er erinnert sich vielleicht an etwas.«
»Ja, das wäre möglich«, pflichtete ich ihr bei. »In Ordnung, das werde ich tun.«
Sarah lächelte aufmunternd, dann zögerte sie. »Evie, wer ist eigentlich dieser Junge, den du getroffen hast?«
Das war eine Frage, die ich mir selbst immer und immer wieder gestellt hatte.
»Er heißt Sebastian James. Er lebt hier in der Nähe.« Ich hielt mich an die groben Fakten. »Er reitet auf einem schwarzen Pferd. Und nächstes Jahr geht er aufs College. Nach Oxford.«
»Ich bin beeindruckt. Er muss klug sein. Aber warum trefft ihr euch mitten in der Nacht?«
»Mrs. Hartle wird mir wohl kaum gestatten, ihn zum Abendessen einzuladen, oder?«
»Okay, okay«, sagte Sarah. »Also, er wartet darauf, aufs College gehen zu können, und er weiß, dass er an den Leuten von Wyldcliffe nicht vorbeikommt, und ihm gefällt offenbar die Romantik, die mit mitternächtlichen Treffen verbunden ist. Was gibt es sonst noch zu sagen?«
In der Tat, was gab es sonst noch? Wie konnte ich die feinen Konturen seiner Wangen beschreiben, das Licht in seinen Augen, das warme Lächeln? Wie konnte ich den überschwänglichen Jubel in mir beschreiben, wenn ich bei ihm war, oder den Schmerz, den unsere Streitereien mir bereiteten? Ich brauchte es nicht einmal zu versuchen. Ich sagte nichts.
»Ich weiß nicht, ob du vorhast, diesen Sebastian wiederzusehen, aber ich glaube, du solltest es besser nicht tun«, sprach Sarah weiter. »Jedenfalls so lange nicht, bis wir etwas mehr wissen. Und du solltest ihn schon gar nicht nachts treffen, Evie. Es ist zu riskant. Er könnte gefährlich werden.«
Sebastians Launen. Sebastians Geheimniskrämerei. Das Funkeln in seinen Augen, die aufflackernde Wut. Machte ihn das gefährlich? War nicht jeder Mensch potenziell gefährlich? Eine nagende Stimme in meinem Kopf erinnerte mich an etwas, das Sebastian einmal gesagt hatte:
Ich will nicht, dass das hier weitergeht … es könnte gefährlich für dich werden.
»Willst du damit behaupten, dass er ein Mörder ist, der axtschwingend durch die Gegend läuft?«, fragte ich etwas trotzig.
»Nein, ich möchte dich nur bitten, vorsichtig zu sein. Wenn er es aufrichtig meint, wird er versuchen, auf normale Weise mit dir in Kontakt zu kommen – du weißt schon, einen Brief schreiben oder so etwas. Wenn du noch einmal erwischt wirst, während du wieder mal nachts draußen herumläufst, könntest du sogar von der Schule fliegen.«
»Ja, nun, ich war auch nicht begeistert von Helens Beitrag zu meiner neuen Verwarnung«, murrte ich.
»Sie hat nur versucht – «
»Ich weiß, ich weiß. Sie hat nur versucht zu helfen.«
»Bitte, Evie.«
Ich wollte Sarah nicht erzählen, dass die Sache mit Sebastian wahrscheinlich sowieso vorbei war. Wenn ich es ihr sagte, würde es Wirklichkeit werden. Ich tat, als hätten ihre Argumente mich überzeugt.
»In Ordnung«, gab ich nach. »Ich werde warten. Ich werde ihn nicht mehr wiedersehen, bis wir etwas mehr wissen. Okay?«
»In Ordnung.« Sie wirkte erleichtert.
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und die Krankenschwester streckte den Kopf herein. »Sarah, du musst jetzt gehen. Du siehst schon viel gesünder aus, Evie. Deine Freundin hat dir gutgetan.« Und dann verschwand sie wieder.
Sarah drückte meine Hand und lächelte. »Also, dann bis morgen.«
»Ja, bis morgen. Und vielen Dank, Sarah.« Ich sah ihr nach und fühlte mich tatsächlich besser. Meine Freundin hatte mir wirklich gutgetan. Mein Blick fiel auf die Blumen, die Helen mir geschenkt hatte. Vielleicht wünschte auch sie sich, auf ihre eigene, seltsame Weise, mit mir befreundet zu sein.
Meine Freunde. Es kam mir so vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen, seit ich so etwas hatte sagen können, und ich ließ die Worte genussvoll in meinem Kopf kreisen: meine Freunde, meine Freunde. Und von weit weg ertönte ein leises Echo: meine Schwestern, meine Schwestern.
Müde schloss ich die Augen und fragte mich, ob Dad,
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