Die achte Karte
sein?«
»Im Monat November.«
»November«, wiederholte sie. Sie überlegte einen Moment. »Aber was hat das zu bedeuten, Monsieur Baillard, diese Verbindung von abergläubischen Vorstellungen und Mutmaßungen – die Karten, die Grabkapelle, ein wasserscheuer Dämon, der die Ehe hasst?«
Er stellte das Buch zurück ins Regal und ging zum Fenster, wo er mit dem Rücken zu ihr stehen blieb und die Hände auf die Fensterbank stützte.
»Monsieur Baillard?«
Er wandte sich um. Für einen kurzen Moment warf die rötliche Sonne, die durch das große Fenster fiel, einen lichten Heiligenschein um ihn, und Léonie hatte den Eindruck, als stünde einer dieser alttestamentarischen Propheten vor ihr, wie man sie aus Ölgemälden kannte.
Dann trat er wieder in die Mitte des Raumes, und die Illusion war entschwunden.
»Es bedeutet, Madomaisèla, dass wir, wenn dörflicher Aberglaube von einem Dämon spricht, der diese Täler und Wälder durchstreift, wenn die Zeit aus den Fugen gerät, das alles nicht bloß als haltlose Geschichten abtun sollten. Es gibt gewisse Orte, und die Domaine de la Cade ist einer davon, an denen ältere Kräfte wirksam sind.« Er schwieg kurz. Dann: »Andererseits gibt es Menschen, die sich dafür entscheiden, eine derartige Kreatur zu erwecken, mit derlei Geistern zu kommunizieren, weil sie nicht begreifen, dass das Böse nicht beherrscht werden kann.«
Sie glaubte es nicht, und doch tat ihr Herz im selben Moment einen kleinen Satz.
»Und das hat mein Onkel getan, Monsieur Baillard? Wollen Sie mir wirklich sagen, mein Onkel hat durch die Wirkkraft der Karten und den Geist des Ortes den Teufel Asmodeus herbeigerufen? Um dann zu erleben, dass er ihn nicht beherrschen konnte? Soll das heißen, dass all diese Geschichten von einer Bestie tatsächlich wahr sind? Dass mein Onkel zumindest moralisch für die Toten im Tal verantwortlich war? Und es auch wusste?«
Audric Baillard erwiderte ihren Blick. »Er wusste es.«
»Und deshalb war er gezwungen, die Dienste von Abbé Saunière zu erbitten«, sprach sie weiter, »um das Ungeheuer zu bannen, das er befreit hatte?« Sie stockte. »Wusste Tante Isolde davon?«
»Das alles geschah, bevor sie herkam. Sie wusste nichts davon.«
Léonie stand auf und ging zum Fenster. »Ich glaube das nicht«, sagte sie schroff. »Was für Geschichten. Teufel, Dämonen. Solche Märchen haben keinen Platz mehr in der modernen Welt.« Ihre Stimme erstarb, als sie an die Tragik des Ganzen dachte. »Diese Kinder«, flüsterte sie. Sie begann, auf und ab zu schreiten, auf Dielenbrettern, die protestierend knarrten und ächzten. »Ich glaube es nicht«, wiederholte sie, doch jetzt war ihre Stimme unsicher geworden.
»Blut lockt Blut an«, sagte Baillard leise. »Es gibt Dinge, die das Böse anziehen. Orte, Gegenstände, Personen können durch die Kraft ihres bösen Willens böse Umstände heraufbeschwören, Missetaten, Sünden.«
Léonie blieb stehen, während ihre Gedanken andere Bahnen einschlugen. Sie sah ihren sanften Gastgeber an und warf sich dann wieder in ihren Sessel.
»Mal angenommen, ich könnte dergleichen ernsthaft glauben, was ist dann mit den Tarotkarten, Monsieur Baillard? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sagen Sie, die Karten können Gutes oder Übles bewirken, je nachdem, wie sie eingesetzt werden.«
»Das ist richtig. Bedenken Sie, dass ein Schwert entweder ein Werkzeug des Guten oder des Bösen sein kann. Die Hand, die es führt, entscheidet darüber, nicht der Stahl selbst.«
Léonie nickte. »Woher stammen die Karten? Wer hat sie zuerst gemalt und zu welchem Zweck? Als ich die Worte meines Onkels zum ersten Mal las, habe ich sie so verstanden, dass die Gemälde auf der Wand der Grabkapelle irgendwie herabsteigen und sich auf die Karten aufdrücken könnten.«
Audric Baillard lächelte. »Wenn dem so wäre, Madomaisèla Léonie, gäbe es nur acht Karten, es gibt aber einen vollen Satz.«
Ihr Herz sank. »Ja, Sie haben recht. Das hatte ich nicht bedacht.«
»Das heißt jedoch nicht«, sagte er, »dass Ihr Gedanke nicht doch ein Körnchen Wahrheit birgt.«
»Dann erklären Sie mir doch, Monsieur Baillard, warum gerade diese acht Darstellungen?« Ihre grünen Augen blitzten, als ihr ein neuer Gedanke kam. »Könnte es sein, dass die Bilder, die noch immer an der Wand zu sehen sind, genau die Bilder sind, die mein Onkel beschworen hat? Dass in einer anderen Situation, bei einer anderen Kontaktaufnahme zwischen den Welten, andere Tableaus,
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