Die achte Karte
hastete den Flur hinunter und durch die Haustür hinaus auf die Straße, während Audric Baillard allein und tief in Gedanken versunken zurückblieb. Der Junge trat aus dem Schatten und schloss die Tür hinter ihr.
Baillard setzte sich wieder in seinen Sessel.
»
Si es atal es atal«,
murmelte er in der alten Sprache. Es kommt, wie es kommen wird. »Doch für dieses Kind wünschte ich, es wäre nicht so.«
Kapitel 73
∞
L éonie rannte durch die Rue de l’Hermite, wobei sie gleichzeitig versuchte, die Knöpfe an ihren Handschuhen zu schließen. Sie bog scharf nach rechts und lief weiter zum Postamt.
Die hölzerne Doppeltür war geschlossen und verriegelt. Léonie hämmerte mit der Faust dagegen und rief: »
S’il vous plaît?«
Es war erst drei Minuten nach zwölf. Bestimmt war noch jemand da. »Ist da jemand? Es ist wirklich wichtig!«
Sie lauschte vergeblich. Wieder klopfte und rief sie, aber es kam niemand. Eine übellaunige Frau mit zwei dünnen grauen Zöpfen lehnte sich aus dem Fenster gegenüber und schrie, sie sollte mit der Klopferei aufhören.
Léonie entschuldigte sich und begriff, wie dumm es von ihr war, sich derart auffällig zu benehmen. Falls ein Brief von Monsieur Constant auf sie wartete, dann würde er sich noch eine Weile länger gedulden müssen. Sie konnte unmöglich in Rennes-les-Bains bleiben, bis das Postamt am Nachmittag wieder aufmachte. Sie würde einfach ein anderes Mal wiederkommen müssen.
Ihre Gefühle waren widersprüchlich.
Einerseits war sie wütend auf sich selbst, weil sie ausgerechnet das nicht erledigt hatte, weshalb sie überhaupt hergekommen war. Andererseits hatte sie das Gefühl, als wäre ihr noch eine Galgenfrist gewährt worden.
Zumindest weiß ich jetzt nicht, dass Monsieur Constant
nicht
geschrieben hat.
Diese konfuse Logik heiterte sie irgendwie auf.
Léonie ging zum Fluss hinunter. Linker Hand sah sie Patienten des Thermalbades in dem dampfenden eisenhaltigen Wasser der
bains forts
sitzen. Hinter ihnen stand eine Reihe Krankenschwestern in weißen Trachten, die breiten Flügelhauben wie große Möwen auf dem Kopf, und wartete geduldig darauf, dass ihre Schützlinge wieder aus dem Becken stiegen.
Sie ging auf die andere Seite und fand problemlos den Pfad, über den Marieta sie geführt hatte. Der Wald hatte sich stark verändert. Entweder weil der Herbst bereits fortgeschritten war oder aber durch die heftigen Unwetter in den Bergen waren einige Bäume jetzt nackt und kahl. Der Boden unter Léonies Füßen war mit Laub bedeckt, golden, weinrot und kupferfarben. Sie blieb einen Moment stehen und dachte an die Aquarellskizzen, an denen sie arbeitete. Das Bild von Le Mat kam ihr in den Sinn, und sie überlegte, die Hintergrundfarben vielleicht zu überarbeiten und den Herbsttönen des Waldes anzupassen.
Sie ging weiter den Hang hinauf, eingehüllt in den grünen Mantel des immergrünen Waldes. Zweige, lose Äste sowie Steine, die aus der Böschung zu beiden Seiten gefallen waren, knackten und knirschten unter ihren Schritten. Kiefernzapfen und die glänzenden braunen Früchte der Rosskastanienbäume lagen auf dem Boden. Für einen kurzen Moment empfand sie jähes Heimweh. Sie dachte an ihre Mutter und daran, wie sie mit ihr und Anatole jedes Jahr im Oktober zum Kastaniensammeln in den Parc Monceau gegangen war. Sie rieb die Fingerspitzen aneinander, erinnerte sich an das Gefühl und den Geschmack des Herbstes in ihrer Kindheit.
Rennes-les-Bains war aus ihrem Blickfeld verschwunden. Léonie beschleunigte ihren Schritt ein wenig. Der Ort lag, wie sie wusste, zwar noch immer in Rufweite, doch zugleich hatte sie auf einmal das Gefühl, weit weg von jeder menschlichen Behausung zu sein. Sie zuckte zusammen, als ein Vogel aufflog und seine Flügel kräftig in der Luft schlugen. Dann sah sie, dass es nur eine kleine Holztaube war, und lachte nervös. In der Ferne hörte sie Schüsse von Jagdflinten, und sie fragte sich, ob Charles Denarnauds Hand eine davon hielt.
Léonie marschierte zügig weiter, und schon bald hatte sie das Anwesen erreicht. Als das rückwärtige Tor der Domaine de la Cade in Sicht kam, verspürte sie eine Welle der Erleichterung. Sie eilte darauf zu und erwartete jeden Moment, dass das Hausmädchen mit dem Schlüssel in der Hand auftauchte.
»Marieta?«
Nur der Klang ihrer eigenen Stimme hallte zu ihr zurück. Die Art der Stille verriet Léonie, dass niemand da war. Sie runzelte die Stirn. Es wäre ungewöhnlich, wenn Pascal nicht Wort
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