Die achte Karte
freigesetzt werden, nehmen sie ein eigenes Leben an.«
Léonie runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.«
»Die Tableaus an den Wänden sind die Abdrücke der letzten Karten, die an diesem Ort beschworen wurden. Aber wenn man durch einen Pinselstrich die Merkmale auf einer oder mehreren Karten verändern würde, dann nähmen sie auch andere Eigenschaften an. Die Karten können unterschiedliche Geschichten erzählen«, erklärte er.
»Trifft das auch zu, wenn die Karten irgendwo anders sind?«, wollte Léonie wissen. »Oder nur auf der Domaine de la Cade, in der Kapelle?«
»Es ist die einzigartige Verbindung von Bild und Klang und dem Geist des Ortes, Madomaisèla. Dieses einen Ortes«, antwortete er. »Und gleichzeitig wirkt sich der Ort auf die Karten aus. So könnte es beispielsweise sein, dass La Force nun eigens zu Ihnen gehört. Aufgrund Ihres künstlerischen Geschicks.«
Léonie sah ihn an. »Aber ich habe die eigentlichen Karten gar nicht gesehen. Außerdem habe ich gar keine Karten gemalt, nur Nachbildungen dessen, was ich an den Wänden gesehen habe, und zwar auf ganz normales Papier.«
Er bedachte sie mit einem bedächtigen Lächeln. »Die Dinge sind nicht unverrückbar, Madomaisèla. Und außerdem haben Sie ja nicht nur sich selbst in die Karten gemalt, nicht wahr? Sie haben auch Ihren Bruder und Ihre Tante in die Bilder gemalt.«
Sie wurde rot. »Das sind bloß kleine Bildchen zur Erinnerung an unseren Aufenthalt hier.«
»Vielleicht.« Er neigte seinen Kopf. »Durch solche Bilder werden Ihre Geschichten länger leben, als Sie sie erzählen können.«
»Sie machen mir Angst, Monsieur«, sagte sie scharf.
»Das ist nicht meine Absicht.«
Léonie zögerte, bevor sie die Frage stellte, die ihr auf der Zunge lag, seit sie zum ersten Mal von den Tarotkarten gehört hatte. »Gibt es den Kartensatz noch?«
Er fixierte sie mit seinen klugen Augen. »Es gibt ihn noch«, sagte er schließlich.
»Innerhalb des Hauses?«, fragte sie rasch nach.
»Abbé Saunière hat Ihren Onkel angefleht, die Karten zu vernichten, sie zu verbrennen, damit nie wieder jemand in Versuchung käme, sie zu benutzen. Und die Grabkapelle gleich dazu.« Baillard schüttelte den Kopf. »Doch Jules Lascombe war Gelehrter und Wissenschaftler. Etwas von so uralter Herkunft hätte er ebenso wenig zerstören können, wie der Abbé seinem Gott abschwören könnte.«
»Dann sind die Karten irgendwo auf dem Anwesen versteckt, ja? In der Grabkapelle sind sie jedenfalls nicht.«
»Sie sind in Sicherheit«, sagte er. »Dort verborgen, wo der Fluss versiegt, an einem Ort, wo einst die alten Könige bestattet wurden.«
»Aber wenn dem so ist, dann …«
Audric Baillard hob einen Finger an die Lippen. »Ich habe Ihnen das alles erzählt, um Ihre Wissbegierde zu stillen, Madomaisèla Léonie, nicht um Ihre Neugier anzustacheln. Ich verstehe, dass Sie in diese Geschichte hineingezogen wurden, dass Sie den Wunsch haben, mehr über Ihre Familie zu erfahren und über die Ereignisse, die deren Leben geprägt haben. Aber ich wiederhole meine Warnung: Die Suche nach den Karten wird nichts Gutes bewirken, vor allem in einer Zeit wie dieser, wo die Dinge so in der Schwebe sind.«
»Einer Zeit wie dieser? Wie meinen Sie das, Monsieur Baillard? Weil der November naht?«
Doch der Ausdruck, der sich über sein Gesicht gelegt hatte, machte deutlich, dass er nichts mehr dazu sagen würde. Léonie wippte mit dem Fuß. Es brannten ihr noch so viele Fragen auf der Seele. Sie holte Luft, doch noch ehe sie ein Wort aussprechen konnte, sagte er: »Es ist genug.«
Durchs offene Fenster war zu hören, wie die Glocke der kleinen Kirche Saint-Celse et Saint-Nazaire zwölf Uhr schlug. Ein dünner, einsamer Ton, der das Ende des Morgens verkündete.
Der Klang riss Léonie in die Gegenwart zurück. Sie hatte ihr eigentliches Vorhaben völlig vergessen. Sie sprang auf.
»Ich bitte um Verzeihung, Monsieur Baillard, ich habe Ihre Zeit über Gebühr beansprucht.« Hastig streifte sie sich die Handschuhe über. »Und dabei ganz vergessen, dass ich noch etwas Dringendes erledigen muss. Das Postamt … Wenn ich mich beeile, kann ich vielleicht noch …«
Léonie griff nach ihrem Hut und eilte zur Tür. Audric Baillard erhob sich langsam, eine elegante, zeitlose Gestalt.
»Wenn Sie erlauben, Monsieur, besuche ich Sie gern wieder?«
»Selbstverständlich, Madomaisèla. Es wäre mir ein großes Vergnügen.«
Léonie winkte schnell, dann ging sie aus dem Zimmer,
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