Die achte Karte
sich unauffällig im Zimmer um. Es war ein schlichter und einfacher Raum mit einer bunten Ansammlung von Stühlen und einem Salontisch hinter dem Sofa. Bis zum Bersten gefüllte Bücherregale bedeckten die Wand gegenüber dem Kamin.
»Bitte sehr«, sagte er. »Nehmen Sie doch Platz. Was gibt es Neues, Madomaisèla Léonie? Ich hoffe, in der Domaine de la Cade ist alles wohlauf? Sie sagten, Ihre Tante war indisponiert. Nichts Ernstes, hoffe ich?«
Léonie nahm ihren Hut ab, zog die Handschuhe aus und setzte sich dann ihm gegenüber.
»Es geht ihr schon viel besser. Wir wurden letzte Woche von dem schlechten Wetter überrascht, und meine Tante hat sich verkühlt. Der Arzt musste kommen, doch das Schlimmste ist überstanden, und sie erholt sich mit jedem Tag.«
»Ihr Zustand hängt in der Schwebe«, sagte er, »und es ist noch sehr früh. Aber alles wird gut werden.«
Léonie fand seinen Kommentar unverständlich und sah ihn verwundert an, doch in dem Moment kam der Junge mit einem Messingtablett herein, auf dem zwei verzierte Kelchgläser und ein Silberkrug standen, der fast so aussah wie eine Kaffeekanne, aber ein wirbelndes Rautenmuster hatte, und sie vergaß die Frage, die ihr auf der Zunge lag.
»Er kommt aus dem Heiligen Land«, erklärte ihr Gastgeber. »Ein Geschenk, das mir ein alter Freund vor vielen vielen Jahren gemacht hat.«
Der Diener reichte ihr ein Glas, das mit einer zähen roten Flüssigkeit gefüllt war.
»Was ist das, Monsieur Baillard?«
»Ein Kirschlikör hier aus der Gegend, Guignolet. Ich muss gestehen, ich bin ihm sehr zugetan. Er schmeckt besonders gut zu diesen Pfefferkeksen.« Er nickte, und der Junge hielt Léonie den Teller hin. »Die sind eine Spezialität hier, und man bekommt sie überall, aber ich finde, die hier von den Frères Marcel sind die besten, die ich je gekostet habe.«
»Ich habe selbst auch welche gekauft«, erwiderte Léonie. Sie trank einen Schluck Guignolet und musste sofort husten. Er war süß und schmeckte intensiv nach Wildkirschen, war aber ausgesprochen stark.
»Sie sind früher zurück, als wir dachten«, sagte sie. »Nach dem, was meine Tante gesagt hat, bin ich davon ausgegangen, Sie würden mindestens bis November verreist sein, vielleicht sogar bis Weihnachten.«
»Meine Angelegenheiten konnten schneller geregelt werden, als ich erwartet hatte, also bin ich zurückgekommen. Man hört Geschichten aus der Stadt. Ich hatte das Gefühl, hier von größerem Nutzen sein zu können.«
Nutzen?
Léonie fand die Wortwahl seltsam, sagte aber nichts dazu.
»Wo waren Sie denn, Monsieur?«
»Zu Besuch bei alten Freunden«, sagte er leise. »Außerdem habe ich ein Haus oben in den Bergen. In einem winzigen Dorf namens Los Seres, nicht allzu weit von der alten Festung Montségur. Ich wollte sicherstellen, dass alles bereit ist, falls ich mich in absehbarer Zukunft dorthin begeben muss.«
Léonie runzelte die Stirn. »Ist das denn wahrscheinlich, Monsieur? Ich hatte den Eindruck, Sie hätten sich hier in der Stadt eine Bleibe gesucht, um den strengen Wintern in den Bergen zu entgehen.«
Seine Augen blitzten. »Ich habe schon viele Winter in den Bergen überstanden, Madomaisèla«, sagte er sanft. »Manche waren hart, andere weniger.« Er schwieg einen Moment und schien seinen Gedanken nachzuhängen. »Doch nun zu Ihnen«, sagte er schließlich, als hätte er sich mit einem Ruck zurück in die Gegenwart geholt. »Wie haben Sie die vergangenen Wochen verbracht? Haben Sie seit unserer letzten Begegnung noch weitere Abenteuer erlebt?«
Sie hielt seinem Blick stand. »Ich bin nicht wieder zur Grabkapelle gegangen, Monsieur Baillard«, sagte sie, »falls Sie das meinen.«
Er lächelte. »Das meinte ich allerdings.«
»Obwohl das Thema Tarot mich zugegebenermaßen nach wie vor interessiert.« Sie musterte seine Miene, doch sein verwittertes Gesicht gab nichts preis. »Ich habe außerdem begonnen, eine Bilderfolge zu malen.« Sie stockte kurz. »Nachbildungen der Darstellungen an den Wänden.«
»Tatsächlich?«
»Es sind Studien, würde ich sagen. Nein, eigentlich sind es eher Kopien.«
Er beugte sich in seinem Sessel vor. »Und Sie haben sie alle gemalt?«
»Nun ja, nein«, antwortete sie, obgleich sie die Frage eigenartig fand. »Bloß die am Anfang. Die sogenannten großen Arkana, und selbst von ihnen nicht alle. Einige behagen mir nicht. Zum Beispiel Le Diable.«
»Und La Tour?«
Ihre grünen Augen wurden schmaler. »Ja. Auch der Turm.
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