Die achte Karte
Bilder von anderen Karten an den Wänden zu sehen wären?« Sie dachte kurz nach. »Von Gemälden vielleicht?«
Audric Baillard gestattete seinen Lippen ein feines Lächeln. »Die unbedeutenderen Karten, einfache Spielkarten, wenn Sie so wollen, entstammen jener unglückseligen Zeit, als wieder einmal Menschen, die durch ihren Glauben dazu getrieben wurden, zu morden und zu unterdrücken und die Ketzerei auszurotten, die Welt in Blut tauchten.«
»Die Albigenser?«, fragte Léonie, die sich an Gespräche zwischen Anatole und Isolde über die tragische Geschichte des Languedoc im 13 . Jahrhundert erinnerte.
Er schüttelte resigniert den Kopf. »Ah, wenn die Menschen ihre Lektionen doch nur so schnell lernen würden, Madomaisèla. Aber leider tun sie es nicht.«
Seine Stimme klang schwer, und Léonie hatte das Gefühl, als läge hinter seinen Worten eine Weisheit, die die Jahrhunderte überspannte. Sie, die sich nie auch nur im Geringsten für die Geschehnisse der Vergangenheit interessiert hatte, merkte auf einmal, dass sie begreifen wollte, wie ein Ereignis zum nächsten geführt hatte.
»Ich spreche nicht von den Albigensern, Madomaisèla Léonie, sondern von den späteren Glaubenskriegen im sechzehnten Jahrhundert, von den Auseinandersetzungen zwischen dem katholischen Haus Guise und denjenigen, die wir der Einfachheit halber als das hugenottische Haus Bourbon bezeichnen wollen.« Er hob beide Hände und ließ sie wieder sinken. »Vielleicht wird es ja immer so sein und bleiben, dass die Forderungen des Glaubens im Nu und unentwirrbar mit Forderungen nach Landbesitz und Herrschaft verknüpft werden.«
»Und aus dieser Zeit stammen die Karten?«, fragte Léonie nach.
»Die ursprünglichen sechsundfünfzig Karten sollten lediglich zur Kurzweil an langen Winterabenden dienen und standen stark in der Tradition des italienischen Spiels Tarocchi. Hundert Jahre vor der Zeit, von der ich jetzt rede, hatte der italienische Adel derlei Zeitvertreib hoffähig gemacht. Als die Republik entstand, wurden die Hofkarten durch Maître und Maîtresse, Fils und Fille ersetzt, wie Sie gesehen haben.«
»La Fille d’Epées«, sagte sie und hatte wieder das Gemälde an der Kapellenwand vor Augen. »Durch wen?«
»Das ist nicht ganz klar. Ungefähr zur selben Zeit, genauer gesagt am Vorabend der Revolution, wurde jedenfalls in Frankreich das harmlose Tarotspiel in etwas anderes verwandelt. In ein Wahrsagesystem, eine Möglichkeit, das Sichtbare und Bekannte mit dem Unsichtbaren und Unbekannten zu verbinden.«
»Waren die Karten da schon in der Domaine de la Cade?«
»Die sechsundfünfzig Karten waren im Besitz des Hauses, wenn Sie so wollen, weniger im Besitz der Menschen, die darin lebten. Der uralte Geist des Ortes entfaltete seine Wirkung auf die Karten. Die Legenden und Sagen verliehen den Karten tiefere Bedeutung und Kraft. Verstehen Sie? Die Karten warteten auf jemanden, der die Sequenz vervollständigen würde.«
»Und das war mein Onkel«, sagte sie, eine Feststellung, keine Frage.
Baillard nickte. »Lascombe las die Bücher, die von den Kartenlegern in Paris veröffentlicht wurden – die alten Worte von Antoine Court de Gébelin, die neueren Schriften von Eliphas Lévi und Romain Merlin –, und ließ sich von ihnen verführen. Er fügte dem Kartensatz, den er geerbt hatte, die zweiundzwanzig großen Arkana hinzu – die von den grundlegenden Veränderungen im Leben künden und von dem, was jenseits davon liegt – und brachte diejenigen, die er beschwören wollte, an der Wand der Grabkapelle an.«
»Mein Onkel hat die zweiundzwanzig zusätzlichen Karten gemalt?«
»Ja.« Er zögerte kurz. »Madomaisèla Léonie, glauben Sie wirklich, dass durch die Wirkkraft der Tarotkarten – am gegebenen Ort und unter den Bedingungen, die derlei Dinge erst möglich machen – Dämonen und Geister herbeigerufen werden können?«
»Ich sollte es nicht glauben, Monsieur Baillard, und doch merke ich, dass ich es glaube.« Sie überlegte einen Moment. »Allerdings verstehe ich nicht, wie es kommt, dass die Karten Macht über Geister haben.«
»Aber nein«, sagte Baillard geschwind. »Das war genau der Fehler, den Ihr Onkel machte. Die Karten können die Geister herbeirufen, ja, aber sie können sie niemals beherrschen. In den Bildern sind alle Möglichkeiten enthalten – jede Charaktereigenschaft, alles menschliche Begehren, Gutes und Böses, all unsere langen und einander berührenden Geschichten –, aber wenn sie
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