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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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was die Person wollte.
    Nein, nicht überreagieren, das ist am klügsten.
    Sie versuchte sich einzureden, dass das bloß irgendein Hotelgast war, der wie sie im Wald spazieren ging. Trotzdem begann sie hastig, die Karten zusammenzuschieben. Dabei fiel ihr auf, dass auch die Abbildungen auf einigen anderen verschwunden waren. Die zweite Karte, die sie aufgedeckt hatte, La Tour, und Le Pagad waren jetzt weiß.
    Mit vor Aufregung und Kälte unbeholfenen Fingern raffte sie die Karten zusammen. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr eine Spinne über die nackte Haut krabbeln. Sie strich sich übers Handgelenk, doch da war nichts, obwohl sie es noch immer spürte.
    Jetzt lag auch ein anderer Geruch in der Luft. Nicht mehr der Duft nach welkem Laub und feuchten Steinen oder der Weihrauchduft, den sie wenige Minuten zuvor noch zu riechen geglaubt hatte, sondern ein Gestank wie von verdorbenem Fisch oder von Brackwasser in einem stillstehenden Meeresarm. Und der Geruch von Feuer, nicht von den vertrauten Herbstfeuern unten im Dorf, sondern heiße Asche und beißender Rauch und glühender Stein.
    Der Augenblick ging vorüber. Meredith blinzelte, riss sich zusammen. Dann nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Da war irgendein Tier mit schwarzem verfilztem Fell, das sich langsam durchs Unterholz bewegte. Die Lichtung umkreiste. Meredith erstarrte. Es war ungefähr so groß wie ein Wolf oder ein Wildschwein, aber sie wusste nicht einmal, ob es in Frankreich überhaupt noch Wölfe in freier Wildbahn gab. Es schien von einem Bein aufs andere zu springen. Meredith umklammerte die Kiste. Jetzt konnte sie grotesk missgestaltete Vorderbeine erkennen und ledrige, mit Blasen überzogene Haut. Eine Sekunde lang richtete die Kreatur ihre stechend blauen Augen auf sie. Sie spürte einen heftigen Schmerz in der Brust, als hätte man sie mit einem Messer durchbohrt, dann wandte sich das Wesen ab, und der Druck auf ihrem Herzen ließ nach.
    Meredith hörte ein lautes Geräusch. Sie blickte nach unten und sah, wie die Waage aus den Händen der Figur der Gerechtigkeit auf Karte  XI glitt. Sie konnte das Scheppern der Messingschalen und Eisengewichte hören, die auf den Steinboden innerhalb des Gemäldes fielen.
    Er will dich holen.
    Die beiden Geschichten waren miteinander verschmolzen, wie Laura es vorhergesagt hatte. Vergangenheit und Gegenwart, durch die Karten vereint.
    Meredith sträubten sich die Haare im Nacken, als sie erkannte, dass sie bei dem Versuch, mit forschendem Blick erkennen zu können, was sich da im Halbdunkel zwischen den Bäumen bewegte, die Bedrohung aus der anderen Richtung vergessen hatte.
    Es war zu spät, um wegzulaufen.
    Irgendwer – irgendwas – war bereits direkt hinter ihr.
    Kapitel 100
    H er mit den Karten«, sagte er.
    Der Klang seiner Stimme ließ Meredith das Herz bis zum Hals schlagen. Sie fuhr herum, die Karten fest in der Hand, und wich sogleich zurück. Julian Lawrence, der immer wie aus dem Ei gepellt ausgesehen hatte, ganz gleich, ob sie ihm in Rennes-les-Bains oder im Hotel begegnet war, bot einen fürchterlich mitgenommenen Anblick. Sein Hemd stand offen, und er schwitzte stark. In seinem Atem lag der säuerliche Geruch von Cognac.
    »Da draußen ist irgendwas«, brach es aus ihr hervor, bevor sie Zeit hatte, nachzudenken. »Ein Wolf oder so, bitte glauben Sie mir. Ich hab ihn gesehen. Außerhalb der Mauern.«
    Er stutzte, und seine verzweifelten Augen blickten verwirrt. »Mauern? Was für Mauern? Wovon reden Sie?«
    Meredith sah sich um. Die Kerzen flackerten noch immer und warfen einen Schatten, der den Umriss der westgotischen Grabstätte formte.
    »Sehen Sie die denn nicht?«, fragte sie. »Es ist so deutlich. Da, wo die Grabkapelle war, brennen Lichter.«
    Ein hinterhältiges Lächeln verzog seine Lippen. »Ach so, ich verstehe«, sagte er. »Ich sehe, worauf Sie hinauswollen, aber das wird Ihnen nichts nützen. Wölfe, Bestien, Geister, alles höchst unterhaltsam, aber Sie werden mich nicht davon abhalten können, zu kriegen, was ich von Ihnen will.« Er trat einen Schritt näher. »Her mit den Karten.«
    Meredith taumelte ein wenig nach hinten. Aber einen Moment lang war sie versucht, nachzugeben. Sie befand sich auf seinem Grund und Boden und hatte ohne Genehmigung hier gegraben. Sie war im Unrecht, nicht er. Doch der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Stechende blaue Augen, geweitete Pupillen. Die Angst lief ihr kalt den Rücken hinab, als ihr

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