Die achte Karte
die Sohlen ihrer schlammverkrusteten Stiefel.
Meredith kämpfte ihre Enttäuschung nieder. Ein paar Steinblöcke, Überreste der Außenmauer, ansonsten bloß Leere. Gras, so weit das Auge reichte.
Schau genauer hin.
Meredith ließ den Blick schweifen. Jetzt fiel ihr auf, dass der Boden nicht gänzlich flach war, und mit ein wenig Phantasie konnte sie den Grundriss der Grabkapelle nachvollziehen. Eine Fläche von etwa sechs Metern Länge und drei Metern Breite, wie ein versunkener Garten. Sie umklammerte die Griffe der Kiste ein wenig fester und trat nach vorne. Erst dabei merkte Meredith, dass sie ihren Fuß angehoben hatte.
Wie ein Schritt über eine Schwelle.
Sogleich schien sich das Licht zu verändern. Dichter zu werden, undurchlässig. Das Tosen des Windes in ihren Ohren wurde lauter, wie eine immer wieder anklingende helle Note oder das Summen von Telefondrähten im Luftzug. Und sie nahm ganz schwach Weihrauchduft wahr, den schweren Geruch von feuchtem Stein und längst verklungenem Gebet, der in der Luft hing.
Sie stellte das Kästchen ab, richtete sich dann auf und sah sich um. Irgendeine Laune der Natur ließ sanften Dunst vom feuchten Boden aufsteigen. Dann begannen kleine Lichtpunkte aufzuleuchten, einer nach dem anderen, die in der Luft um die Ruine schwebten, als zünde eine unsichtbare Hand winzige Kerzen an. Als ein Lichtschein mit dem nächsten verschmolz, bildeten sich allmählich die Mauern der verschwundenen Grabkapelle heraus. Durch einen dünnen Wolkenschleier hindurch meinte Meredith die Umrisse von Buchstaben auf dem Boden zu erkennen – C-A-D-E. Sie trat weiter vor, und auf einmal fühlte sich auch die Fläche unter ihren Stiefeln anders an. Keine Erde oder Gras mehr, sondern harte, kalte Steinplatten.
Meredith kniete sich hin, ohne die Nässe zu bemerken, die an den Knien durch ihre Jeans drang. Sie nahm die Karten heraus und schloss den Deckel. Zum Schutz der Karten zog sie die Jacke aus und legte sie mit der Innenseite nach oben über die Handarbeitskiste. Sie mischte die Karten, wie Laura es ihr in Paris gezeigt hatte, und teilte sie dann mit der linken Hand in drei gleiche Stapel auf. Sie fügte sie wieder zusammen – Mitte, oben, unten – und legte das ganzen Päckchen mit dem Rücken nach oben auf ihren improvisierten Tisch.
Ich kann nicht schlafen.
Meredith konnte unmöglich auf eigene Faust versuchen, die Karten zu legen. Jedes Mal, wenn sie sich ihre Notizen dazu durchlas, fand sie die Deutungen noch verwirrender als zuvor. Sie hatte bloß vor, einige Karten umzudrehen – vielleicht acht, angesichts der Bedeutung, die die Musik an diesem Ort hatte –, bis sich irgendein Muster ergab.
Bis, wie Léonie versprochen hatte, die Karten die Geschichte erzählten.
Sie nahm die erste Karte und lächelte, als sie die vertrauten Gesichtszüge von La Justice sah. Trotz des Mischens und Aufteilens der Karten war es genau dieselbe, die zuoberst gelegen hatte, als sie das Päckchen aus dem Versteck in dem trockenen Wasserlauf geholt hatte.
Die zweite Karte war La Tour, eine Karte des Zwiespalts und der Gefahr. Sie legte sie neben die erste und zog die nächste. Die klaren blauen Augen von Le Pagad schauten zu ihr hoch, eine Hand zum Himmel weisend, die andere zur Erde, das Unendlichkeitssymbol über seinem Kopf. Er war eine etwas bedrohliche Gestalt, weder eindeutig gut noch eindeutig schlecht. Während sie ihn betrachtete, hatte Meredith immer stärker den Eindruck, das Gesicht zu kennen, obwohl sie noch nicht wusste, woher.
Die vierte Karte brachte ihr Lächeln zurück: Le Mat. Anatole Vernier in seinem weißen Anzug, mit Strohhut und Gehstock in der Hand, wie ihn vermutlich seine Schwester gemalt hatte. La Prêtresse folgte ihm, Isolde Vernier, schön und elegant und feinsinnig. Dann Les Amoureux, Isolde und Anatole zusammen.
Die siebte Karte war Le Diable. Ihre Hand verweilte einen Moment über der Karte, während die bösartigen Züge von Asmodeus vor ihren Augen Gestalt annahmen. Der Dämon, die Personifizierung der Schrecken und beängstigenden Bergmythen, die Audric S. Baillard in seinem Buch gesammelt hatte. Geschichten des vergangenen und gegenwärtigen Bösen.
Meredith wusste nun, aus der Abfolge der Karten, die sich ergeben hatte, welche Karte die letzte sein würde. Jede einzelne der
dramatis personae
war hier, dargestellt in den von Léonie gemalten Karten, und doch so abgewandelt oder verändert, dass sie eine ganz bestimmte Geschichte erzählten.
Der
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