Die achte Karte
und hieß jetzt Rue de Liège.
Meredith folgte mit dem Finger einer Linie bis zur Rue de Londres, wo Debussy sich im Januar 1892 mit seiner Geliebten Gaby Dupont eine möblierte Wohnung genommen hatte. Als Nächstes kam ein Appartement in der winzigen Rue Gustave-Doré im 17 ., dann gleich um die Ecke die Rue Cardinet, wo sie gewohnt hatten, bis Gaby ihn am Neujahrstag 1899 verließ. Debussy blieb die nächsten fünf Jahre mit seiner ersten Frau Lilly in derselben Wohnung, bis auch diese Verbindung zerbrach.
Was Entfernungen und Planung anging, war Paris einigermaßen gut zu bewältigen. Hilfreich war auch, dass Debussy sein Leben in einem relativ überschaubaren Bereich verbracht hatte, einem sternförmig angeordneten Quartett von Straßen um den Place d’Europe herum, auf der Grenze zwischen dem 8 . und 9 . Arrondissement, in der Nähe des Gare Saint-Lazare, denn dadurch war alles bequem zu Fuß zu erreichen.
Meredith umkringelte ihre verschiedenen Anlaufpunkte auf dem Stadtplan mit schwarzem Filzstift, betrachtete das Muster einen Moment und beschloss dann, am äußeren Punkt anzufangen und sich dann zurück Richtung Hotel zu arbeiten.
Sie packte alles zusammen, sobald sie den widerspenstigen Stadtplan endlich gebändigt hatte, und trank ihren Kaffee aus. Nachdem sie die buttrigen Croissantkrümel von ihrem Pullover gefegt und jeden Finger einzeln abgeleckt hatte, kostete es sie einige Überwindung, sich nicht doch noch eins zum Mitnehmen zu bestellen. Trotz ihrer schlanken und sportlichen Figur aß Meredith für ihr Leben gern. Gebäck, Brot, Kekse, all die Sachen, die bekanntlich schlecht für die Linie waren. Für die Rechnung ließ sie einen Zehneuroschein auf dem Tisch liegen, plus ein paar Münzen Trinkgeld, dann brach sie auf.
Sie brauchte knapp fünfzehn Minuten bis zum Place de la Concorde. Von dort ging sie am Palais de la Madeleine vorbei, einer ungewöhnlichen Kirche im Stil eines römischen Tempels, und den Boulevard Malesherbes hinab. Nach ungefähr fünf Minuten bog sie links in die Avenue Velasquez und näherte sich dem Parc Monceau. Nach dem tosenden Autolärm auf dem Boulevard wirkte die schöne Sackgasse fast unheimlich still. Platanen mit gescheckter Rinde, fleckig wie der Handrücken eines alten Menschen, säumten die Bürgersteige. Viele Stämme waren mit Graffiti besprüht. Meredith schaute nach oben und betrachtete die weißen Botschaftsgebäude, die teilnahmslos und leicht verächtlich über die Vorgärten blickten. Sie blieb stehen und machte ein paar Fotos, nur für den Fall, dass sie sich später nicht mehr an die genaue Lage erinnerte.
Auf einem Schild am Eingang zum Parc Monceau standen die Öffnungszeiten für Winter und Sommer. Meredith trat durch das schwarze schmiedeeiserne Tor auf die weite grüne Fläche und konnte sich sogleich vorstellen, wie Lilly oder Gaby oder sogar Debussy selbst mit seiner Tochter an der Hand über die breiten Wege spaziert waren. Lange weiße Sommerkleider, raschelnd im Staub, oder Damen unter breitkrempigen Hüten auf einer der grünen Metallbänke rund um die Rasenflächen. Generäle a.D. in Militäruniform und dunkeläugige Diplomatenkinder, die unter den wachsamen Blicken ihrer Gouvernanten mit Holzreifen spielten. Zwischen den Bäumen hindurch sah sie die Säulen einer architektonischen Verrücktheit im Stil eines griechischen Tempels. Etwas weiter entfernt standen ein für die Öffentlichkeit gesperrtes Eishaus in Form einer Steinpyramide und Marmorstatuen der Musen. Auf der anderen Seite des Parks trugen gelbbraune Ponys, die in einer Reihe hintereinandertrotteten, begeisterte Kinder über den Kiesweg.
Meredith machte zahlreiche Fotos. Abgesehen von der Kleidung der Leute und den Handys, schien sich der Parc Monceau gegenüber den Aufnahmen von vor hundert Jahren, die sie gesehen hatte, kaum verändert zu haben. Alles war so lebendig, so klar.
Nachdem sie eine halbe Stunde entspannt durch den Park geschlendert war, verließ sie ihn schließlich und gelangte zur Metrostation auf der Nordseite. Das Schild MONCEAU, LIGNE 2 über dem Eingang sah mit seinem kunstvollen Jugendstildesign aus, als stammte es noch aus den Tagen Debussys. Sie machte noch zwei weitere Fotos, überquerte dann die verkehrsreiche Kreuzung und spazierte ins 17 . Arrondissement. Nach der Fin-de-Siècle-Eleganz des Parks wirkte die Gegend trist. Die Geschäfte sahen billig aus, die Gebäude langweilig.
Sie fand die Rue Cardinet ohne Probleme und erkannte auch das Haus,
Weitere Kostenlose Bücher