Die achte Karte
zumindest noch nicht. Sie hatte ihre Kreditkarten, und notfalls könnte sie sich immer etwas von Mary leihen, um über den Engpass hinwegzukommen. Aber sie wäre erleichtert, wenn sie wüsste, dass das Geld unterwegs war.
Meredith schaltete den Computer aus. Sie trank den letzten Schluck Wein, putzte sich die Zähne und stieg mit einem Buch ins Bett.
Sie hielt ungefähr fünf Minuten durch.
Die Geräusche von Paris wurden schwächer. Meredith schlummerte ein, das Licht noch eingeschaltet und den abgegriffenen Band mit Erzählungen von Edgar Allan Poe unberührt auf dem Kissen neben ihr.
Kapitel 10
Samstag, 27 . Oktober
A ls Meredith am nächsten Morgen erwachte, strömte Licht durchs Fenster.
Sie sprang aus dem Bett, bürstete rasch ihr schwarzes Haar, band es zu einem Pferdeschwanz zusammen und zog Jeans, einen grünen Pullover und ihre Jacke an. Sie vergewissert sich, dass sie auch alles Nötige in die Tasche gesteckt hatte – Portemonnaie, Stadtplan, Notizbuch, Sonnenbrille, Kamera –, dann trat sie voller Vorfreude auf den Tag zur Tür hinaus und eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter in die Lobby.
Es war ein perfekter Herbsttag, hell, sonnig und frisch. Meredith ging zum Frühstücken in die Brasserie schräg gegenüber. Runde Tische aus Marmorimitat, aber trotzdem hübsch, waren in der Morgensonne auf dem Bürgersteig aufgereiht. Drinnen war alles aus braunlackiertem Holz. Eine verzinkte Theke nahm die gesamte Länge des Raumes ein, und zwei schwarz-weiß gekleidete Kellner in mittlerem Alter bewegten sich mit erstaunlicher Gewandtheit durch das gutbesuchte Lokal.
Meredith ergatterte den letzten freien Tisch draußen, gleich neben einer Gruppe von vier Männern in Unterhemden und engen Lederhosen. Alle rauchten und tranken Espresso und Wasser. Rechts von ihr nippten zwei dünne, adrett gekleidete Frauen ihren
café noisette
aus weißen Tässchen. Sie bestellte sich das
petit-déjeuner complet
– Saft, Baguette, Butter und Gelee, Croissant und
café au lait
–, dann zückte sie ihr Notizbuch, eine originalgetreue Kopie der klassischen Moleskinebücher à la Hemingway. Sie war schon bei Nummer drei des Sechserpacks, das sie für diese Reise im Sonderangebot bei Barnes & Noble gekauft hatte. Sie schrieb alles auf, ganz gleich, wie banal oder unbedeutend es schien. Später übertrug sie dann die Notizen, die sie für wichtig hielt, in ihren Laptop.
Sie hatte vor, an diesem Tag die privaten Orte aufzusuchen, die für Debussy von Bedeutung gewesen waren, nicht die großen öffentlichen Hallen und Konzertsäle. Sie wollte ein paar Fotos machen und einfach mal sehen, was dabei herauskam. Falls sich das Ganze als Zeitverschwendung entpuppte, würde sie sich etwas anderes überlegen, aber sie hielt die Idee für ganz vernünftig.
Debussy war am 22 . August 1862 in Saint-Germain-en-Laye, das heute im Einzugsgebiet von Paris lag, zur Welt gekommen. Aber er war Pariser mit Leib und Seele und verbrachte fast seine ganzen fünfundfünfzig Lebensjahre in der Hauptstadt, von seiner Kindheit in der Rue de Berlin bis zu dem Haus Nummer 80 an der Avenue du Bois de Boulogne, in dem er am 25 . März 1918 starb, vier Tage nachdem die Deutschen begonnen hatten, Paris mit Ferngeschützen zu beschießen. Die letzte Station auf ihrer Tagesroute würde der Cimetière de Passy im 16 . Arrondissement sein, wo Debussy beerdigt war.
Meredith atmete tief durch. Sie fühlte sich in Paris, in Debussys Stadt, fast wie zu Hause. Vor ihrer Abfahrt hatten sich die Ereignisse ja förmlich überschlagen, und jetzt konnte sie kaum glauben, dass sie tatsächlich hier war. Sie saß eine Weile ganz ruhig da und genoss einfach nur die Atmosphäre und das Gefühl, mittendrin zu sein. Dann holte sie ihren Stadtplan hervor und breitete ihn auf dem Tisch aus. Die Ecken hingen über die Kante wie der Saum eines bunten Tischtuchs.
Sie strich ein paar Haarsträhnen, die sich gelockert hatten, hinter die Ohren und studierte den Plan. Die erste Adresse auf ihrer Liste war die Rue de Berlin, wo Debussy ab den frühen Sechzigern des 19 . Jahrhunderts mit seinen Eltern und Geschwistern gewohnt hatte, bis er neunundzwanzig war. Die Straße lag gleich um die Ecke der Wohnung des symbolistischen Dichters Stéphane Mallarmé, wo die legendären Dienstagstreffen stattgefunden hatten, an denen auch Debussy teilgenommen hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg war sie wie so viele französische Straßen mit deutschen Namen umbenannt worden
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