Die achte Karte
Darüber standen Titel und Datum in altmodischer Kursivschrift:
Grabkapelle 1891 .
Sie kannte es auswendig – jeden Takt, jede Sechzehntelnote, jede Harmonie. Die Musik und die drei Fotos, die Meredith zusammen aufbewahrte, waren alles, was ihre leibliche Mutter ihr hinterlassen hatte. Ein Familienerbe, ein Talisman.
Ihr war durchaus bewusst, dass diese Reise möglicherweise nichts Interessantes erbringen würde. Es war lange her; die Geschichten verblasst. Andererseits, so dachte sich Meredith, konnte ihre derzeitige Situation sich kaum verschlechtern. Sie wusste so gut wie nichts über die Vergangenheit ihrer Familie, hatte das dringende Bedürfnis, mehr zu erfahren. Das war ihr den Preis eines Flugtickets wert.
Meredith merkte, dass der Zug langsamer wurde. Die Bahngleise hatten sich vervielfacht. Die Lichter des Gare du Nord kamen in Sicht. Wieder änderte sich die Atmosphäre im Abteil. Eine Rückkehr in die reale Welt, ein gemeinsames Ziel am Ende einer fast abgeschlossenen Reise. Krawatten wurden gerade gerückt, Mäntel übergezogen.
Sie packte die Fotos, das Notenblatt und die anderen Unterlagen zusammen und schob alles zurück in ihre Tasche. Dann zog sie einen Haargummi vom Handgelenk, band ihr schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, fuhr sich mit den Fingern durch die Stirnfransen und trat auf den Gang.
Mit ihren hohen Wangenknochen, den klaren braunen Augen und der zierlichen Gestalt sah Meredith eher aus wie frisch von der Highschool, nicht wie eine achtundzwanzigjährige Wissenschaftlerin. Zu Hause hatte sie immer ihren Ausweis dabei, damit es keine Probleme gab, wenn sie sich in einer Bar etwas Alkoholisches bestellte.
Als sie nach oben ins Gepäckfach griff, um ihre Jacke und Reisetasche herunterzuholen, kam zwischen ihrem grünen Top und der Jeans von Banana Republic ein sonnengebräunter, flacher Bauch zum Vorschein, und sie merkte, dass die vier Männer von gegenüber sie anstarrten.
Meredith zog sich die Jacke an.
»Gute Reise noch, Jungs«, sagte sie grinsend und ging zur Tür.
Als sie auf den Bahnsteig trat, schlug ihr eine Lärmwand entgegen. Laute Stimmen, ein Gewimmel von Menschen. Alle hatten es eilig. Die Lautsprecher plärrten irgendwelche Durchsagen. Informationen über die nächste Abfahrt wurden mit einer Art Fanfare oder Glockenspiel eingeleitet. Nach der gedämpften Ruhe im Zug war das hier der helle Wahnsinn.
Meredith lächelte, sog die Bilder, die Gerüche, das Wesen von Paris ein. Und sofort fühlte sie sich wie ein anderer Mensch.
Sie hängte ihre Taschen über die Schulter, folgte den Hinweisschildern zum Ausgang und stellte sich am Taxistand in die Warteschlange. Der Mann vor ihr bellte irgendwas in sein Handy, während er mit einer Gitane wedelte, die ihm zwischen den Fingern klemmte. Bläulichweißer Qualm, der nach Vanille roch, schlängelte sich in der Nachtluft nach oben, hob sich als Silhouette gegen die Balustraden und Fensterläden der gegenüberliegenden Häuser ab.
Sie nannte dem Fahrer die Adresse, ein Hotel im 4 . Arrondissement auf der Rue du Temple im Marais, für das sie sich wegen der zentralen Lage entschieden hatte. Von dort war es nicht weit zu Touristenattraktionen wie dem Centre Pompidou und Musée Picasso, falls sie die Zeit dafür fand, aber was noch wichtiger war, das Konservatorium und die verschiedenen Konzertsäle, Archive und Privatadressen, die sie wegen Debussy aufsuchen musste, lagen ganz in der Nähe.
Der Fahrer verstaute ihre Reisetasche im Kofferraum, schlug dann die Tür zu und stieg ein. Meredith wurde nach hinten ins Polster gedrückt, als das Taxi schwungvoll in den hektischen Pariser Verkehr einfädelte. Sie schlang schützend den Arm um ihre Tasche und hielt sie fest an sich gedrückt, während sie Cafés, Boulevards, Motorroller und Straßenlampen vorbeizischen sah.
Meredith hatte das Gefühl, Debussys Musen, Mätressen, Geliebte, Ehefrauen genau zu kennen – Marie Vasnier, Gaby Dupont, Thérèse Roger, seine erste Frau Lilly Texier, seine zweite, Emma Bardac, seine heißgeliebte Tochter Chouchou. Ihre Gesichter, ihre Geschichten, ihre Charaktere standen ihr förmlich vor Augen – die Daten, die Verbindungen, die Musik. Sie hatte einen ersten Entwurf der Biographie fertig und war ganz zufrieden damit, wie der Text Gestalt annahm. Jetzt musste sie alles auf dem Papier zum Leben erwecken, sie brauchte etwas mehr Farbe, ein wenig Atmosphäre des 19 . Jahrhunderts.
Hin und wieder kam es ihr so vor, als ob
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