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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Sie schlängelte sich durch die Touristenströme auf dem Weg zum Louvre und ging dann die gesamte Avenue de l’Opéra hinunter. Der Bau selbst war 19 . Jahrhundert, keine Frage, aber der Verkehr eindeutig 21 . – völlig chaotisch –, Autos, Motorroller, Lastwagen, Busse und Motorräder, die aus allen Richtungen auf sie zugestürzt kamen. Sie riskierte Leib und Leben, als sie im Zickzack über die Fahrbahn rannte, um die Insel zu erreichen, auf der das Palais Garnier stand.
    Es haute sie um – die imposante Fassade, die prächtigen Balustraden, die Säulen aus rosafarbenem Marmor, die vergoldeten Statuen, das golden und weiß verzierte Dach mit der grünen Kupferkuppel, die in der Oktobersonne leuchtete. Meredith versuchte, sich das morastige Brachland auszumalen, auf dem das Gebäude errichtet worden war. Versuchte, sich anstatt Lastwagen und hupender Autos Kutschen vorzustellen, Frauen in langen wallenden Kleidern und Männer mit Zylindern. Vergeblich. Alles war zu laut, zu aufdringlich, um einen Widerhall der Vergangenheit durchzulassen.
    Erleichtert stellte sie fest, dass die Oper aufgrund eines später stattfindenden Benefizkonzerts geöffnet hatte, obwohl Sonntag war. Sobald sie eingetreten war, umfing sie die Stille der historischen Treppen und Balkone. Das Grand Foyer war genauso, wie sie es sich anhand der Bilder vorgestellt hatte, eine weite Marmorfläche, die sich vor ihr ausbreitete wie das Mittelschiff einer gewaltigen Kathedrale. Vor ihr schwang sich die Grand Escalier unter der glänzenden Kupferkuppel in die Höhe.
    Meredith ging weiter ins Gebäude hinein, wobei sie den Blick schweifen ließ. Durfte sie überhaupt hier sein? Ihre Turnschuhe quietschten auf dem Marmor. Die Türen zum großen Saal waren nur angelehnt, und sie schlüpfte hindurch. Sie wollte den berühmten sechs Tonnen schweren Kronleuchter und das Deckengemälde von Chagall mit eigenen Augen sehen.
    Vorne im Orchestergraben probte ein Quartett. Meredith setzte sich leise in die letzte Reihe. Einen Moment lang fühlte sie, wie der Geist ihres früheren Selbst – der Musikerin, die sie hätte sein können – sie lautlos begleitete und neben ihr Platz nahm. Das Gefühl war so stark, dass sie beinahe den Kopf gewandt und hingesehen hätte.
    Während Notenklänge aus dem Orchestergraben in die leeren Gänge drangen, musste Meredith daran denken, wie gut sie das aus eigener Erfahrung kannte. Das Warten im Seitenflügel, mit Geige und Bogen in der Hand. Das brennende Gefühl des Lampenfiebers im Magen, halb Adrenalin, halb Angst, und dann das Hinaustreten vors Publikum. Das Stimmen des Instruments, die feinen Justierungen an Saiten und Bogen, das Rieseln von Geigenharz, wie Puder auf dem schwarzen Polyester ihres langen Konzertrocks.
    Mary hatte Meredith die erste Geige geschenkt, als sie acht Jahre alt war, kurz nachdem sie endgültig zu ihnen gezogen war. Schluss mit den Wochenendtrips zu ihrer »richtigen« Mutter. Der Geigenkasten hatte auf dem Bett in dem Zimmer gelegen, das ihres werden sollte, ein Willkommensgeschenk für ein kleines Mädchen, das ganz durcheinander war von dem Schicksal, das das Leben ihm zugedacht hatte. Ein Kind, das bereits zu viel gesehen hatte.
    Sie hatte die dargebotene Chance mit beiden Händen ergriffen. Musik war ihre Fluchtmöglichkeit. Sie war begabt, lernte schnell und war fleißig. Mit neun Jahren spielte sie bei einem Schulfest im Milwaukee Ballet Company Studio in Walker’s Point. Bald darauf bekam sie auch Klavierunterricht. Es dauerte nicht lange, und die Musik beherrschte ihr Leben.
    Den Traum, Profimusikerin zu werden, hatte sie von der Grundschule bis zum letzten Jahr der Highschool gehegt. Ihre Lehrer redeten ihr zu, sich an Konservatorien zu bewerben, und versicherten ihr, sie habe gute Chancen, angenommen zu werden. Mary stieß in dasselbe Horn.
    Aber im letzten Moment kniff Meredith. Redete sich ein, sie wäre nicht gut genug. Dass ihr Talent doch nicht reichte, um es wirklich zu schaffen. Stattdessen bewarb sie sich an der University of North Carolina für einen Studienplatz in Englisch und wurde angenommen. Sie wickelte die Geige in das rote Seidentuch und legte sie in den mit blauem Veloursamt ausgeschlagenen Kasten. Sie entspannte die kostbaren Bögen und klemmte sie in die Halterungen im Deckel. Packte den goldbraunen Block Geigenharz in das dafür vorgesehene Fach. Lehnte den Kasten hinten an die Wand ihres Kleiderschranks und ließ ihn zurück, als sie Milwaukee verließ, um

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