Die achte Karte
in dem Lilly und Debussy vor über hundert Jahren gelebt hatten. Sie verspürte einen Stich der Enttäuschung. Von außen sah es ebenfalls schlicht aus, nichtssagend, belanglos. Ohne jeden Charakter. In seinen Briefen sprach Debussy liebevoll von der bescheidenen Wohnung, beschrieb die Aquarelle an den Wänden, die Ölgemälde.
Einen Moment lang erwog sie, irgendwo zu klingeln, vielleicht würde sie ja jemand hereinlassen und ihr erlauben, sich ein wenig umzuschauen. Schließlich hatte Debussy genau hier das Werk geschrieben, das sein Leben veränderte, seine einzige Oper,
Pelléas et Mélisande.
Hier hatte Lilly Debussy einen Tag vor ihrem fünften Hochzeitstag versucht, sich zu erschießen, als sie begriffen hatte, dass Debussy sie tatsächlich verlassen würde, um mit Emma Bardac zusammenzuziehen, der Mutter eines seiner Klavierschüler. Lilly überlebte, aber die Kugel konnte nie entfernt werden. Die Tatsache, dass sie bis ans Ende ihrer Tage mit einem bleiernen Andenken an Debussy im Körper hatte leben müssen, war für Meredith irgendwie das wenn auch furchtbare, aber doch ergreifendste Element der ganzen Geschichte.
Sie hob die Hand an die silberne Klingelleiste, bremste sich dann aber. Meredith glaubte an den Spiritus Loci. Sie hing der Vorstellung an, dass unter gewissen Umständen ein Echo der Vergangenheit erhalten bleiben konnte. Aber hier in der Stadt war zu viel Zeit vergangen. Selbst wenn die Mauersteine dieselben waren, nach hundert Jahren geschäftigen menschlichen Lebens gäbe es hier zu viele Geister. Zu viele verklungene Schritte, zu viele Schatten.
Sie wandte der Rue Cardinet den Rücken zu. Nachdem sie den Stadtplan herausgeholt und zu einem praktischen Quadrat zusammengefaltet hatte, machte sie sich auf die Suche nach dem Square Claude Debussy. Als sie ihn fand, war er eine noch größere Enttäuschung. Hässliche sechsstöckige Gebäudeklötze mit einem Secondhandladen an der Ecke. Und er war praktisch menschenleer. Der ganze Platz wirkte verlassen. Bei dem Gedanken an die eleganten Statuen im Parc Monceau, die an Schriftsteller, Maler und Architekten erinnerten, fand Meredith es geradezu empörend, dass Paris einem seiner berühmtesten Söhne eine so schäbige Ehre zuteilwerden ließ.
Sie ging zurück zu dem belebten Boulevard des Batignolles. In der gesamten Literatur, die sie über das Paris des ausgehenden 19 . Jahrhunderts gelesen hatte, Debussys Paris, wurde die Stadt abseits der großen Boulevards und Avenuen als ziemlich gefährlich geschildert. Es gab ganze Viertel – die
quartiers perdus
–, die man besser mied.
Sie ging weiter in die Rue de Londres, wo Gaby und Debussy im Januar 1892 ihre erste Wohnung angemietet hatten, hoffte, irgendetwas zu spüren, Nostalgie, eine gewisse Atmosphäre des Ortes, doch vergeblich. Sie folgte den Hausnummern, blieb an der Stelle stehen, wo Debussys Haus hätte sein müssen. Meredith trat zurück, vergewisserte sich in ihrem Notizbuch, dass die Nummer stimmte, und runzelte die Stirn.
Nicht mein Tag heute.
Wie es aussah, war das Gebäude in den letzten hundert Jahren vom Gare Saint-Lazare förmlich verschluckt worden. Der Bahnhof war immer weiter gewachsen und hatte sich auf die umliegenden Straßen ausgedehnt. Hier war nichts mehr, was die Vergangenheit mit der Gegenwart verband. Es gab nicht einmal mehr etwas, was ein Foto gelohnt hätte. Nur Leere.
Meredith schaute sich um und sah ein kleines Restaurant auf der anderen Straßenseite, Le Petit Chablisien. Sie brauchte etwas zu essen. Und vor allem brauchte sie ein Glas Wein.
Sie überquerte die Straße. Die Speisekarte war mit Kreide auf eine Tafel geschrieben, die auf einem Gestell auf dem Bürgersteig stand. Die großen Glasfenster waren anständig mit halbhohen Gardinen verhängt, so dass sie nicht hineinsehen konnte. Sie drückte die altmodische Türklinke herunter, und eine schrille Glocke bimmelte und schepperte. Sie trat ein und wurde augenblicklich von einem älteren Kellner begrüßt, der eine gestärkte weiße Leinenschürze umgebunden hatte.
»Pour manger?«
Meredith nickte und wurde zu einem Ecktisch für eine Person geführt, auf dem Papiertischtuch klobiges Silberbesteck und eine Flasche Wasser. Sie bestellte das
plat du jour
und ein Glas Fitou.
Das Fleisch – ein
bavette
– war so, wie Steak sein sollte, in der Mitte noch rosa und mit einer kräftigen dunklen Pfeffersauce. Der Camembert war reif. Während sie aß, betrachtete Meredith die Schwarzweißfotos an
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