Die achte Karte
Sonne in den Süden verfolgte, hörte sich Meredith über Kopfhörer Debussys
Suite bergamasque
an und schrieb, bis ihr der Arm weh tat, füllte eine kleine linierte Seite nach der anderen mit ordentlichen Notizen und Zeichnungen. Wieder und wieder klangen ihr Lauras Worte durch den Kopf, wie in einer Endlosschleife, kämpften gegen die Musik an.
Dinge, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her gleiten.
Und die ganze Zeit war sie sich dunkel der Karten in dem Gepäckfach über ihrem Kopf bewusst. Ein ungebetener Gast. Das Bilderbuch des Teufels.
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Dritter Teil
Rennes-les-Bains
September 1891
Kapitel 18
∞
Paris, Donnerstag, 17 . September 1891
N achdem die Entscheidung gefallen war, Isolde Lascombes Einladung anzunehmen, begann Anatole mit den Vorbereitungen für eine baldige Abreise.
Gleich nach dem Frühstück verließ er das Haus, um die Depesche zu schicken und Zugfahrkarten für den nächsten Tag zu besorgen, während Marguerite mit Léonie einkaufen ging, um sie mit Dingen einzudecken, die sie für den Monat auf dem Lande benötigen würde. Ihre erste Station war das Maison Léoty, wo sie einen Satz teure Unterwäsche kauften, die ihre Silhouette veränderte und Léonie das Gefühl gab, richtig erwachsen zu sein. Im Samaritaine suchte Marguerite für sie ein neues Teekleid und ein Wanderkostüm aus, beides wie geschaffen für den Herbst auf dem Lande. Ihre Mutter war warmherzig und liebevoll, aber irgendwie geistesabwesend, und Léonie merkte ihr an, dass sie ein wenig bedrückt war. Sie vermutete, dass ihre Mutter diese Anschaffungen auf Du Ponts Rechnung tätigte, und fand sich innerlich schon damit ab, bei ihrer Rückkehr nach Paris im November vielleicht schon einen neuen Vater zu haben.
Léonie war aufgeregt, aber auch eigenartig verwirrt, ein Zustand, den sie den Ereignissen des Vorabends zuschrieb. Sie hatte keine Gelegenheit gehabt, mit Anatole über die seltsame zeitliche Fügung zu sprechen, die ihm für seine Erfordernisse just im rechten Moment eine Einladung beschert hatte.
Nach dem Mittagessen nutzten Léonie und Marguerite den milden und angenehmen Nachmittag für einen Spaziergang im Parc Monceau, in dem sich überwiegend die Diplomatenkinder aus den umliegenden Botschaften tummelten. Eine Gruppe von Jungen, die ausgelassen
Un, Deux, Trois, Loup
spielten, kreischten und feuerten sich gegenseitig an. Eine Schar Mädchen mit Schleifchen und weißen Unterröcken spielte unter den wachsamen Augen von Kinderfrauen und dunkelhäutigen Leibwächtern Himmel und Hölle.
La Marelle
war eines von Léonies Lieblingsspielen als Kind gewesen, und sie und Marguerite blieben stehen, um zuzuschauen, wie die Mädchen den Kieselstein in das Kreidekästchen auf dem Boden warfen und dann loshüpften. Der Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter verriet Léonie, dass auch sie sich wehmütig an die Vergangenheit erinnerte. Sie nutzte die Gelegenheit aus, um eine Frage zu stellen.
»Wieso waren Sie nicht glücklich in der Domaine de la Cade?«
»Ich habe mich in der Umgebung einfach nicht wohl gefühlt,
chérie,
das ist alles.«
»Aber warum? Wegen der Menschen? Oder lag es am Anwesen?«
Marguerite zuckte die Achseln, wie sie es immer tat, nicht bereit, sich aushorchen zu lassen.
»Es muss doch einen Grund gegeben haben«, beharrte Léonie.
Marguerite seufzte. »Mein Halbbruder war ein Eigenbrötler«, sagte sie schließlich. »Die Gesellschaft einer deutlich jüngeren Schwester war ihm unlieb, und es passte ihm nicht in den Kram, dass er teilweise für die zweite Frau seines Vaters Verantwortung trug. Wir fühlten uns stets als unwillkommene Gäste.«
Léonie überlegte kurz. »Meinen Sie, ich werde mich dort wohl fühlen?«
»Aber ja, da bin ich ganz sicher«, antwortete Marguerite rasch. »Das Anwesen ist sehr schön, und in den letzten dreißig Jahren sind bestimmt viele Verbesserungen vorgenommen worden.«
»Und das Haus selbst?«
Marguerite antwortete nicht.
»M’man?«
»Es ist lange her«, sagte sie schließlich. »Es wird sich einiges verändert haben.«
Der Morgen ihrer Abreise, Freitag, der 18 . September, dämmerte feuchtkalt und böig herauf.
Léonie erwachte früh, mit einem nervösen Flattern in der Magengegend. Jetzt, wo der Tag gekommen war, empfand sie plötzlich schon Heimweh nach der Welt, die sie zurückließ. Die Geräusche der Stadt, die Spatzen auf den Häuserdächern gegenüber, die vertrauten Gesichter der Nachbarn und Ladeninhaber, alles schien auf
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