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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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einmal schmerzlich liebenswert. Alles trieb ihr Tränen in die Augen.
    Anatole schien es ähnlich zu ergehen, denn er wirkte bedrückt. Sein Mund war verkniffen, und seine Augen wirkten gehetzt, während er wachsam an einem Fenster im Salon stand und nervös auf die Straße hinunterschaute.
    Das Dienstmädchen meldete, dass die Kutsche vorgefahren sei.
    »Bestell dem Kutscher, dass wir gleich runterkommen«, sagte er.
    »In
den
Sachen willst du reisen?«, fragte Léonie neckend mit Blick auf seinen Cutaway und Gehrock. »Du siehst aus, als wolltest du ins Büro.«
    »Genau so soll es auch aussehen«, sagte er grimmig und ging durch den Salon auf sie zu. »Sobald wir aus Paris raus sind, ziehe ich mir etwas Bequemeres an.«
    Léonie wurde rot und schämte sich, dass sie nicht selbst darauf gekommen war. »Natürlich.«
    Er nahm seinen Zylinder. »Beeil dich,
petite.
Wir wollen doch unseren Zug nicht verpassen.«
    Unten auf der Straße wurde ihr Gepäck bereits in den
fiacre
geladen. »Saint-Lazare«, rief Anatole gegen den pfeifenden Wind an. »Gare Saint-Lazare.«
    Léonie umarmte ihre Mutter und versprach, ihr zu schreiben. Marguerites Augen waren rot gerändert, was sie erstaunte und auch sie selbst wieder weinerlich machte. Léonies letzte paar Minuten in der Rue de Berlin gerieten deshalb gefühlvoller, als sie erwartet hatte.
    Der
fiacre
rollte an. Im letzten Moment, als das Gig schon um die Ecke in die Rue d’Amsterdam bog, schob Léonie das Fenster nach unten und sah noch einmal zu ihrer Mutter, die allein auf dem Trottoir stand.
    »
Au revoir,
M’man«, rief sie, lehnte sich dann in ihrem Sitz zurück und betupfte die feucht schimmernden Augen mit ihrem Taschentuch. Anatole nahm ihre Hand und hielt sie fest.
    »Ich bin sicher, sie kommt gut ohne uns zurecht«, beruhigte er sie.
    Léonie schniefte.
    »Du Pont wird sich schon um sie kümmern.«
    »Hast du dich vertan? Fährt der Express nicht vom Gare Montparnasse ab anstatt vom Saint-Lazare?«, fragte sie kurz darauf, nachdem das weinerliche Gefühl abgeklungen war.
    »Falls sich irgendwer nach uns erkundigt«, sagte er in verschwörerischem Flüsterton, »soll er glauben, wir wollten in die westlichen Vororte. Gut, nicht?«
    Sie nickte. »Verstehe. Eine Finte.«
    Anatole grinste und tippte sich seitlich an die Nase.
    Bei ihrer Ankunft am Gare Saint-Lazare ließ er ihr Gepäck in eine andere Droschke umladen. Er gab sich entspannt, während er laut mit dem Kutscher plauderte, aber Léonie fiel auf, dass er schwitzte, obwohl die Luft feucht und kühl war. Seine Wangen waren gerötet, und Schweißperlen glänzten an seinen Schläfen.
    »Fühlst du dich unwohl?«, fragte sie besorgt.
    »Nein«, sagte er hastig und fügte dann hinzu, »aber diese … Heimlichtuerei ist anstrengend. Wenn wir erst einmal ein Stück von Paris entfernt sind, geht’s mir wieder besser.«
    »Was hättest du gemacht«, fragte Léonie neugierig, »wenn die Einladung nicht gerade jetzt gekommen wäre?«
    Anatole zuckte die Achseln. »Eine andere Lösung gefunden.«
    Léonie wartete, dass er noch mehr sagte, aber er schwieg.
    »Weiß M’man von deinen … Verbindlichkeiten beim Chez Frascati?«, fragte sie schließlich.
    Anatole wich der Frage aus. »Ich habe sie instruiert, falls jemand Fragen stellt, soll sie sagen, wir sind nach Saint-Germain-en-Laye gefahren. Debussys Familie stammt von dort, daher …« Er legte ihr beide Hände auf die Schultern und drehte sie so, dass sie ihn ansah. »Na,
petite,
bist du nun zufrieden?«
    Léonie reckte das Kinn vor. »Ja, bin ich.«
    »Und keine weiteren Fragen?«, sagte er neckend.
    Sie lächelte leicht zerknirscht. »Ich will’s versuchen.«
    Als sie am Gare Montparnasse ankamen, warf Anatole dem Kutscher das Fahrgeld zu und hastete dann in den Bahnhof, als wäre ihm eine Meute Hunde auf den Fersen. Léonie spielte bei dem Theater mit, weil sie begriff, dass er hier möglichst unauffällig bleiben wollte, nachdem er es am Saint-Lazare darauf angelegt hatte, aufzufallen.
    Im Bahnhof sah er auf der Anschlagtafel mit den Abfahrten nach, legte dann eine Hand an die Westentasche, ohne sie jedoch hineinzuschieben.
    »Hast du deine Taschenuhr vergessen?«
    »Die ist mir bei dem Überfall abgenommen worden«, sagte er beiläufig.
    Sie gingen den Bahnsteig entlang und suchten den Wagen mit ihrem Abteil. Léonie sah, dass die Wagen Zettel mit den Namen der Orte trugen, an denen der Zug halten würde: Laroche, Tonnerre, Dijon, Mâcon, heute Abend um

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