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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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sechs Lyon-Perranche, dann Valence, Avignon und schließlich Marseille.
    Morgen würden sie von Marseille aus mit dem Zug an der Küste entlang nach Carcassonne fahren, am Sonntagmorgen dann weiter von Carcassonne nach Couiza-Montazels, dem Bahnhof, der Rennes-les-Bains am nächsten lag. Laut der Wegbeschreibung ihrer Tante war es von dort nur noch eine kurze Kutschfahrt zur Domaine de la Cade, in den Ausläufern der Corbières.
    Anatole kaufte eine Zeitung und verbarg sich dahinter. Léonie beobachtete die Menschen, die draußen vorbeigingen. Zylinder und Cutaways, Damen in weiten, schwingenden Röcken. Ein Bettler mit magerem Gesicht und verdreckten Fingern, die sich zum Fenster des Erste-Klasse-Wagens reckten und um Almosen bettelten, bis der Wachmann ihn verjagte.
    Ein letzter schriller Pfiff ertönte, dann ein Brüllen von der Lokomotive, als sie ihren ersten Dampfstrahl ausspie. Funken flogen. Dann das Mahlen von Metall auf Metall, ein Schwall aus dem schwarzen Schornstein, und die Räder begannen langsam, sich zu drehen.
    Enfin.
    Der Zug nahm Fahrt auf, als er aus dem Bahnhof rollte. Léonie lehnte sich zurück und sah zu, wie Paris in weißen Schwaden aus Rauch und Dampf entschwand.

Kapitel 19
    ∞
    Couiza, Sonntag, 20 . September
    L éonie hatte die dreitägige Fahrt durch Frankreich genossen. Sobald der Express die trostlose Pariser
banlieue
hinter sich gelassen hatte, hatte Anatole seine gute Laune wiedergefunden und sie mit Geschichten, Kartenspielen und Gesprächen darüber unterhalten, wie sie ihre Zeit in den Bergen verbringen würden.
    Am späten Freitagabend waren sie in Marseille ausgestiegen. Tags darauf ging die Fahrt wie geplant weiter nach Carcassonne, wo sie eine unbehagliche Nacht in einem Hotel ohne warmes Wasser und mit unfreundlichem Personal verbracht hatten. Léonie war mit Kopfschmerzen aufgewacht, und da es schwierig war, am Sonntagmorgen einen
fiacre
zu bekommen, hätten sie um ein Haar ihren Zug verpasst.
    Doch sobald sie die Außenbezirke Carcassonnes verlassen hatten, hatte sich Léonies Stimmung gebessert. Jetzt lag ihr Reiseführer neben einem Band mit Kurzgeschichten vergessen neben ihr auf dem Sitz. Die lebendige, atmende Landschaft des Midi entfaltete allmählich ihren Zauber.
    Die Bahngleise folgten den Windungen des Flusses durch das silbrige Aude-Tal nach Süden in Richtung Pyrenäen. Zuerst führten die Schienen an der Straße entlang. Das Land war flach und leer. Doch bald sah Léonie links und rechts Reihen von Weinstöcken und gelegentlich auch Felder mit Sonnenblumen, die noch immer leuchtend gelb blühten, die Köpfe nach Osten gewandt.
    Sie erblickte ein kleines Dorf – kaum mehr als eine Handvoll Häuser –, das malerisch an einem fernen Berg klebte. Dann ein anderes, Häuser mit roten Ziegeldächern, die sich um den hoch aufragenden Kirchturm drängten. Näher an den Schienen, außerhalb der Orte, die direkt an den Gleisen lagen, sah sie rosa Hibiskus, Bougainvilleen, Flieder, Lavendel und Klatschmohn. Grüne, stachelige Kastanienhelme hingen an den übervollen Ästen der Bäume. In der Ferne goldene und glänzend kupferrote Silhouetten, der einzige Hinweis darauf, dass der Herbst schon auf seinen Auftritt wartete.
    Entlang der gesamten Strecke arbeiteten Bauern auf den Feldern, ihre gestärkten blauen Kittel mit den gestickten Mustern an Kragen und Manschetten sahen steif und glänzend aus, wie poliert. Die Frauen trugen flache Strohhüte zum Schutz gegen die sengende Sonne. Auf den ledrigen Gesichtern der Männer lag ein resignierter Ausdruck, während sie, gegen den unerbittlichen Wind gebückt, so spät noch ernteten.
    In einem größeren Ort namens Limoux hatte der Zug eine Viertelstunde Aufenthalt. Danach wurde die Landschaft steiler, felsiger, weniger lieblich, als die Ebene in die
garrigue
der Hautes Corbières überging. Der Zug ratterte bedenklich auf schmalen Schienen oberhalb des Flusses dahin, bis plötzlich in der Ferne hinter einer Kurve die blau-weißen Pyrenäen auftauchten, strahlend in der flimmernden Hitze.
    Léonie stockte der Atem. Die Berge schienen wie ein mächtiger Wall aus dem flachen Boden aufzuragen und die Erde mit dem Himmel zu verbinden. Majestätisch, unveränderlich. Im Vergleich zu dieser Herrlichkeit der Natur wirkten die von Menschenhand geschaffenen Bauwerke in Paris wie Spielzeug. Der berühmte umstrittene Metallturm von Monsieur Eiffel, Baron Haussmanns große Boulevards, sogar die Oper von Monsieur Garnier, sie alle

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