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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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verblassten ins Bedeutungslose. Diese Landschaft war nach einem gänzlich anderen Maßstab geschaffen – Erde, Luft, Feuer und Wasser. Die vier Elemente waren vor dem Betrachter ausgebreitet wie die Tasten eines Klaviers.
    Der Zug ratterte und schnaufte, wurde deutlich langsamer und beschleunigte dann wieder ruckartig. Léonie schob das Fenster herunter und spürte die Luft des Midi auf den Wangen. Waldige Hügel, grün, braun und rot, erhoben sich unvermittelt im Schatten grauer Granitfelsen. Das Schaukeln des Zuges und das Surren der Räder auf den Schienen hatten eine einschläfernde Wirkung, und sie merkte, wie ihr die Augen zufielen.
     
    Das Quietschen der Bremsen ließ sie hochfahren.
    Ihre Augen flogen auf, und für einen Moment wusste sie nicht, wo sie war. Dann sah sie den Reiseführer auf ihrem Schoß und Anatole gegenüber, und es fiel ihr wieder ein. Nicht in Paris, sondern in einem ratternden Eisenbahnwagen im Midi.
    Der Zug wurde langsamer.
    Léonie schaute verschlafen aus dem schmutzigen Fenster. Es war nicht leicht, die Schrift auf dem bemalten Holzbrett über dem Bahnsteig zu lesen. Dann hörte sie den Bahnhofsvorsteher, der mit starkem südfranzösischen Akzent verkündete:
    »Couiza-Montazels.
Dix minutes d’arrêt.
«
    Sie setzte sich mit einem Ruck auf und klopfte ihrem Bruder aufs Knie.
»Anatole, nous sommes là. Lève-toi.«
    Schon hörte sie, wie Türen aufgestoßen wurden und gegen die grüngestrichenen Zugwände knallten, wie ein halbherziger Applaus bei den Concerts Lamoureux.
    »Anatole«, wiederholte sie. Sie war sicher, dass er sich nur schlafend stellte. »
C’est l’heure.
Wir sind in Couiza.«
    Sie lehnte sich aus dem Fenster.
    Obwohl es so spät in der Saison und Sonntag war, stand eine ganze Reihe von Trägern an ihre hölzernen Gepäckwagen gelehnt. Die meisten hatten ihre Mützen weit nach hinten geschoben, die Westen geöffnet und die Hemdsärmel bis über die Ellbogen aufgekrempelt.
    Sie hob den Arm. »
Porteur, s’il vous plaît«,
rief sie.
    Einer sprang vor, er überlegte sich offensichtlich, wie gut sich ein paar Sous in seiner Tasche machen würden. Léonie trat vom Fenster zurück, um ihre Habseligkeiten einzusammeln.
    Plötzlich wurde die Tür zum Abteil aufgerissen. »Gestatten Sie, Mademoiselle.«
    Ein Mann stand auf dem Bahnsteig und sah sie an.
    »Nein, wirklich, wir kommen zurecht …«, begann sie, doch er ließ den Blick durchs Abteil schweifen, sah Anatoles schlafende Gestalt und das Gepäck, das noch oben im Gepäckfach war, und stieg ungebeten ein.
    »Ich bestehe darauf.«
    Léonie fand ihn auf Anhieb unsympathisch. Sein steifer Stehkragen, die zweireihige Weste und der Zylinder wiesen ihn als Mann von Stand aus, und doch hatte er etwas an sich, das nicht ganz
comme il faut
war. Sein Blick war zu keck, zu impertinent.
    »Danke, aber das ist nicht nötig«, sagte sie. Sie nahm den Geruch von Zwetschgenschnaps in seinem Atem wahr. »Ich bin durchaus in der Lage …«
    Aber er war schon ohne ihre Erlaubnis dabei, den ersten Koffer von dem Holzgestell zu heben. Léonie sah, wie er kurz auf die Initialen im Leder blickte, als er Anatoles Handkoffer auf den schmutzigen Boden stellte.
    Die Untätigkeit ihres Bruders langweilte sie, und sie schüttelte ihn grob am Arm.
    »Anatole,
voilà Couiza.
Wach auf!«
    Zu ihrer Erleichterung rührte er sich endlich. Seine Augenlider flackerten, und er schaute sich verschlafen um, als wäre er überrascht, in einem Eisenbahnabteil zu sein. Dann fiel sein Blick auf sie, und er lächelte.
    »Ich muss eingenickt sein«, sagte er, während er sich mit langen, blassen Fingern über das geölte schwarze Haar strich.
»Désolé.«
    Léonie zuckte zusammen, als der Mann Anatoles Koffer mit einem lauten Knall auf den Bahnsteig fallen ließ. Dann griff er nach ihrer lackierten Handarbeitskiste.
    »Vorsicht«, sagte sie schneidend. »Die ist kostbar.«
    Der Mann musterte sie von oben bis unten und betrachtete dann die beiden goldenen Initialen auf dem Deckel: L.V.
    »Aber selbstverständlich. Machen Sie sich keine Sorgen.«
    Anatole stand auf. Sogleich wirkte das Abteil um einiges kleiner. Er betrachtete sich kurz in dem Spiegel unter dem Gepäckfach, zog die Kragenspitzen seines Hemdes gerade, richtete seine Weste und zupfte die Manschetten zurecht. Dann beugte er sich vor und hob mit einer geschmeidigen Bewegung Hut, Handschuhe und Gehstock auf.
    »Wollen wir?«, sagte er lässig und bot Léonie seine Hand an.
    Erst jetzt schien

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