Die achte Karte
Uhr schlug die halbe Stunde.
Isolde erklärte, sie wolle die Einladungen für das Diner am Samstag schreiben, und zog sich in ihr Arbeitszimmer zurück. Anatole nahm die gedrungene grüne Flasche Bénédictine vom Tablett und sagte, er würde noch etwas sitzen bleiben und eine Zigarre rauchen.
Léonie gab ihrem Bruder einen Gutenachtkuss und verließ den Salon. Sie ging durch die Halle, ein wenig unsicher auf den Beinen, und ließ den Tag Revue passieren. Die Dinge, die ihr Freude bereitet hatten, und die, die sie fasziniert hatten. Wie raffiniert von Tante Isolde, gleich zu erraten, dass Anatoles Lieblingsbonbons Pyrenäenperlen waren. Wie entspannt sie drei die meiste Zeit miteinander umgegangen waren. Sie dachte an die Abenteuer, die vielleicht auf sie warteten, wie sie nicht nur das Haus erkunden würde, sondern, falls das Wetter es erlaubte, die gesamte Umgebung.
Ihre Hand lag schon auf dem Treppengeländer, als ihr auffiel, dass der Deckel des Stutzflügels verlockend offen stand. Die schwarzen und weißen Tasten glänzten im schimmernden Kerzenlicht, als wären sie frisch poliert worden. Der satte Mahagonikorpus schien zu leuchten.
Léonie war keine besonders gute Klavierspielerin, aber der Einladung der wartenden Klaviatur konnte sie nicht widerstehen. Sie spielte eine Tonleiter, ein Arpeggio, dann einen Akkord. Der Flügel hatte einen zarten Klang, weich und präzise, als würde er regelmäßig gestimmt und gewartet. Sie ließ ihren Fingern freien Lauf, spielte eine wehmütige, alte Notenfolge in Moll – a, e, c und d, ein einsamer Melodiebogen, der kurz durch die stille Halle klang und sich dann verlor. Traurig, beschwörend, harmonisch.
Zum Schluss ließ Léonie die Rückseiten der Finger mit einer schwungvollen Bewegung über die aufsteigenden Oktaven gleiten und ging dann die Treppe hinauf und zu Bett.
Die Stunden verstrichen. Sie schlief. Das Haus versank Zimmer für Zimmer in Stille. Eine Kerze nach der anderen wurde gelöscht. Jenseits der grauen Mauern lagen die Gärten, die Rasenflächen, der See, der Buchenwald ruhig unter einem weißen Mond. Alles war still.
Und dennoch.
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Vierter Teil
Rennes-les-Bains
Oktober 2007
Kapitel 28
Rennes-les-Bains, Montag, 29 . Oktober 2007
M erediths Flugzeug landete zehn Minuten zu früh auf dem Toulouser Flughafen Blagnac. Um halb fünf hatte sie ihren Mietwagen abgeholt und sich vom Parkplatz aus auf den Weg gemacht. Mit ihren Turnschuhen, den Jeans und ihrer großen Schultertasche sah sie aus wie eine Studentin.
Die abendliche Rushhour auf der Umgehungsstraße war der helle Wahnsinn, wie das Computerspiel
Grand Theft Auto,
nur ohne die Waffen. Meredith hielt das Lenkrad fest umklammert, leicht panisch, weil der Verkehr von allen Seiten kam. Sie drehte die Klimaanlage auf und starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe.
Als sie endlich auf die
autoroute
kam, wurde der Verkehr übersichtlicher. Allmählich fühlte sie sich so sicher hinterm Steuer, dass sie sich traute, das Radio einzuschalten. Sie entschied sich für einen der eingespeicherten Sender, Classique, und drehte die Lautstärke höher. Das Übliche. Bach, Mozart, Puccini, ein bisschen Debussy.
Die Strecke war ziemlich unkompliziert. Sie fuhr Richtung Carcassonne und nahm nach rund dreißig Minuten die Landstraße über Mirepoix und Limoux. In Couiza hielt sie sich links Richtung Arques, folgte etwa zehn Minuten lang einer kurvigen Straße und bog dann rechts ab. Um sechs fuhr sie mit einer Mischung aus Vorfreude und Anspannung in das Städtchen, das ihre Gedanken so lange beschäftigt hatte.
Ihre ersten Eindrücke von Rennes-les-Bains waren vielversprechend. Es war sehr viel kleiner, als sie erwartet hatte, und die Hauptstraße – obwohl diese Bezeichnung fast schon zu hoch gegriffen war – war so eng, dass kaum zwei Autos aneinander vorbeikamen, aber irgendwie hatte es einen gewissen Charme. Selbst die Tatsache, dass keine Menschenseele zu sehen war, störte Meredith nicht.
Sie fuhr an einem hässlichen Steingebäude vorbei, dann an einem hübschen Garten, der ein Stück von der Straße zurückgesetzt lag. Über dem Eingang verkündete ein Metallschild JARDIN DE PAUL COURRENT , und auf einem Schild an der Mauer stand LE PONT DE FER .
Plötzlich trat sie die Bremse bis zum Anschlag durch. Der Wagen kam schlitternd zum Stehen, gerade rechtzeitig, um nicht hinten auf einen blauen Peugeot aufzufahren, der mitten auf der Straße gehalten hatte.
Er bildete das Schlusslicht
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