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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Sie spürte die feuchte Luft unter dem steinernen Gewölbe über ihre Haut streichen. Das Wasser war hier in einem engen Kanal gefangen und floss daher schneller. Weiße Gischt spritzte aus dem Fluss, der über Felsen strömte, gegen die Mauern.
    Es gab einen schmalen Sims, gerade breit genug, um darauf zu stehen.
    Keine gute Idee, da reinzugehen.
    Und doch zog sie den Kopf ein, drückte die rechte Hand an die feuchte Tunnelmauer, um das Gleichgewicht zu halten, und machte einen Schritt in das Halbdunkel. Sofort drang ihr der Geruch von nasser Luft, Moos und Flechten in die Nase. Sie schob sich auf dem rutschigen Sims weiter nach vorne, noch ein bisschen und noch ein bisschen, bis das amethystfarbene Zwielicht nur noch ein schwacher Schimmer war und sie das Flussufer nicht mehr sehen konnte.
    Meredith neigte den Kopf, um nicht gegen die gekrümmte Tunneldecke zu stoßen, blieb stehen und schaute nach unten ins Wasser. Kleine schwarze Fische schossen hin und her, Ranken von grünem Flussgras wurden von der Strömung flach gedrückt, die Gischt bildete zarte weiße Schaumkronen, wenn die Wellen gegen Steine und Felsen auf dem Grund stießen.
    Das Rauschen und Rinnen des Wassers war so beruhigend, dass Meredith sich hinhockte. Ihre Augen verloren den Fokus. Es war friedlich hier unter der Brücke, ein versteckter, geheimer Ort. Hier konnte sie die Vergangenheit leichter beschwören. Wie sie so in den Fluss starrte, fand sie es einfach, sich barfüßige Jungen in Kniebundhosen und Mädchen mit Samtschleifen im lockigen Haar vorzustellen, die unter dieser alten Brücke Verstecken spielten. Sie hörte förmlich die Stimmen der Erwachsenen, die vom gegenüberliegenden Ufer aus nach ihren Schützlingen riefen.
    Das gibt’s doch nicht!
    Für den Bruchteil einer Sekunde meinte Meredith, die Umrisse eines Gesichts zu sehen, das zu ihr hochblickte. Ihre Augen verengten sich. Ihr war bewusst, dass die Stille um sie herum sich vertieft hatte. Die Luft war leer und kalt, als wäre alles Leben aus ihr herausgesaugt worden. Sie spürte, wie ihr Herz stockte und sich ihre Sinne schärften. Jeder Nerv ihres Körpers war angespannt.
    Bloß mein eigenes Spiegelbild.
    Sie ermahnte sich, ihre blühende Phantasie zu zügeln, und spähte erneut in den aufgewühlten Spiegel des Wassers.
    Diesmal gab es keinen Zweifel. Ein Gesicht starrte aus der Tiefe des Flusses zu ihr hoch. Es war kein Spiegelbild, obwohl Meredith das Gefühl hatte, ihre eigenen Züge hinter dem Bild zu erkennen, sondern ein Mädchen mit langem fließenden Haar, das in der Strömung schwebte und wogte, eine moderne Ophelia.
    Dann schienen sich die Augen unter Wasser langsam zu öffnen und die von Meredith mit einem klaren und direkten Blick zu bannen. Augen wie grünes Glas, die alle wechselnden Farben des Wassers bargen.
    Meredith schrie auf. Geschockt sprang sie auf die Beine, verlor beinahe das Gleichgewicht und riss die Arme nach hinten, um sich der Mauer in ihrem Rücken zu vergewissern. Sie zwang sich, erneut hinzusehen.
    Nichts.
    Da war nichts. Kein Spiegelbild, kein geisterhaftes Gesicht im Wasser, bloß die verzerrten Konturen von Felsen und Treibholz, das die Strömung mitgebracht hatte. Bloß das Wasser, das über Steine rauschte und das Flussgras tanzen und schwanken und wallen ließ.
    Jetzt wollte Meredith nur noch raus aus dem Tunnel. Schlitternd und rutschend schob sie sich über den Sims, bis sie wieder im Freien war. Ihr zitterten die Beine. Sie nahm die Tasche von der Schulter, ließ sich auf ein Fleckchen trockenes Gras sinken und zog die Knie ans Kinn. Über ihr auf der Straße leuchteten zwei Scheinwerfer auf, als ein weiteres Auto aus dem Ort fuhr.
    Ging es los?
    Merediths größte Angst war, dass die Krankheit, unter der ihre leibliche Mutter gelitten hatte, eines Tages auch bei ihr ausbrechen würde. Geister, Stimmen, gepeinigt von Erscheinungen, die niemand sonst hören oder sehen konnte.
    Sie atmete tief durch, ein und aus, ein und aus.
    Ich bin nicht sie.
    Meredith ließ sich noch ein paar Minuten Zeit, dann stand sie auf. Sie klopfte sich den Schmutz von der Kleidung, streifte sich Schlamm und Gras von den Schuhsohlen, schulterte die schwere Tasche und ging über die niedrige Fußgängerbrücke zurück zu dem Weg am anderen Ufer.
    Sie war nach wie vor aufgewühlt, aber schlimmer noch, sie war wütend auf sich selbst, weil sie dermaßen panisch reagiert hatte. Sie griff auf eine alte Technik zurück, die sie sich vor langer Zeit selbst

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