Die achte Karte
überreden, sie reinzulassen, aber optimistisch war sie da nicht. Enttäuscht von sich selbst, weil sie nicht weit genug vorausgedacht hatte, wandte Meredith sich ab und ging wieder die Straße hinunter.
An der rechten Seite des Thermalbades führte ein Fußweg entlang, die Allée des Bains de la Reine. Meredith zog ihre Jacke enger um sich, weil ein unangenehmer Wind aufgekommen war, und ging dann hinunter zum Flussufer, vorbei an einem großen leeren Schwimmbad. Die menschenleere Terrasse wirkte heruntergekommen. Die gesprungenen blauen Fliesen, die hölzerne Liegefläche, an der die rosa Farbe abblätterte, die kaputten Plastikstühle. Schwer zu glauben, dass das Schwimmbad überhaupt benutzt wurde.
Sie ging weiter. Auch am Flussufer war kein Mensch zu sehen, alles öde und verlassen. Eine Stimmung wie früher, am Morgen nach einer spontanen Party auf irgendeinem Highschool-Parkplatz, wenn der Boden matschig und von Reifenspuren durchpflügt war. Entlang des Weges standen schmiedeeiserne Bänke, verbogen und wenig einladend. Meredith sah eine verrostete wackelige Pergola in Form einer Krone mit ein paar Holzbänken darunter. Sie sahen aus, als wären sie schon seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Oben an der Pergola befanden sich zwei Eisenhaken, vermutlich um eine Markise zum Schutz gegen die Sonne daran zu befestigen.
Aus reiner Gewohnheit kramte sie in ihrer Tasche und holte die Kamera heraus. Sie stellte die Belichtung auf die schlechten Lichtverhältnisse ein und machte zwei Aufnahmen, skeptisch, ob sie gelingen würden. Sie versuchte, ein Bild von Lilly heraufzubeschwören, wie sie auf einer der Bänke saß, in weißer Bluse und schwarzem Rock, das Gesicht von einem breitkrempigen Hut geschützt, und von Debussy und Paris träumte. Sie versuchte, sich ihren sepiafarbenen Soldaten vorzustellen, wie er am Ufer entlangschlenderte, vielleicht mit einem Mädchen im Arm, aber es gelang ihr nicht. Alles hier war irgendwie falsch. Verwahrlost, verwaist. Die Welt hatte sich weitergedreht.
Ihr war ein wenig traurig zumute, als sehnte sie sich nach einer imaginären Vergangenheit, die sie nie erlebt hatte, während sie langsam weiter am Ufer entlangging. Sie folgte dem gebogenen Lauf des Flusses bis zu einer flachen Betonbrücke, die auf die andere Seite führte. Meredith zögerte, ehe sie sie überquerte. Das gegenüberliegende Ufer sah wilder aus, noch einsamer. Es war leichtsinnig, allein in einer fremden Stadt herumzustromern, vor allem mit dem teuren Laptop und der Kamera in der Tasche.
Und es wird allmählich dunkel.
Aber irgendetwas in ihr drängte sie weiter. Entdeckergeist, vermutete sie, oder Abenteuerlust. Sie wollte dem Wesen des Ortes auf die Spur kommen. Dem wahren Rennes-les-Bains, das es seit Hunderten von Jahren gab, nicht bloß der Hauptstraße mit ihren modernen Cafés und Autos. Und falls sich herausstellte, dass sie tatsächlich eine persönliche Verbindung zu der Stadt hatte, dann wollte sie sich nicht vorwerfen müssen, die wenige Zeit, die sie hier hatte, vergeudet zu haben. Sie schlang sich den Tragegurt ihrer Tasche über Schulter und Brust und ging über die Brücke.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses herrschte eine andere Atmosphäre. Auf Anhieb hatte Meredith das Gefühl, dass die Landschaft hier ursprünglicher war, weniger von Menschen und Moden beeinflusst. Der grobe, zerklüftete Berghang schien sich direkt vor ihr aus dem Boden zu erheben. Die verschiedenen Grün-, Braun- und Rottöne der Büsche und Bäume wirkten in der Dämmerung noch satter. Eigentlich hätte es eine reizvolle Landschaft sein müssen, aber irgendetwas daran wirkte falsch. Fast zweidimensional, als verberge sich der wahre Charakter des Ortes hinter einer gemalten Fassade.
Während sich der Oktoberabend herabsenkte, suchte sich Meredith vorsichtig einen Weg zwischen den wuchernden Dornenbüschen hindurch, über plattgedrücktes Gras und Abfall, den der Wind hergeweht hatte. Auf der Straßenbrücke weiter oben fuhr ein Auto vorbei, und seine Scheinwerfer warfen kurz einen Lichtkegel auf die graue Felswand, wo die Berge bis hinunter zur Stadt reichten.
Dann verklang das Motorgeräusch, und alles war wieder still.
Meredith folgte einem Pfad, bis es nicht mehr weiterging. Sie stand vor der Öffnung eines dunklen Tunnels, der unterhalb der Straße in den Berg führte.
Ein überdimensionierter Regenkanal?
Meredith legte eine Hand auf die kalte Ziegeleinfassung, beugte sich vor und spähte hinein.
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