Die achte Karte
Genugtuung zu, wie Verniers Leben unter der Last seiner Trauer zerbrach.
Der Frühling wich der Sommerhitze des Juli und August. Eine Zeitlang konnte Constant in Frieden leben. Bis der September kam. Dann eine zufällig aufgeschnappte Bemerkung, ein kurzer Blick auf blondes Haar unter einem blauen Hut auf dem Boulevard Haussmann, in Montmartre Gemunkel von einem Sarg, der sechs Monate zuvor leer beerdigt worden sei. Constant schickte zwei Männer los, die Vernier in der Nacht der Tumulte im Palais Garnier auf den Zahn fühlen sollten, aber sie wurden gestört, bevor sie etwas aus ihm herausbekommen konnten.
Erneut blätterte er die Seiten des Tagebuchs durch, bis er zum 16 . September kam. Die Seite war leer. Vernier hatte weder den Krawall in der Oper erwähnt noch den Angriff auf ihn in der Passage des Panoramas. Der letzte Eintrag war auf zwei Tage zuvor datiert. Constant schlug die Seite auf und las ihn noch einmal. Große, selbstbewusste Buchstaben – ein einziges Wort.
» FIN .«
Er spürte, wie ihn kalte Wut durchströmte. Die drei Buchstaben schienen auf der Seite vor seinen Augen zu tanzen, ihn zu verspotten. Nach allem, was er durchgemacht hatte, entdecken zu müssen, dass er auf einen Schwindel hereingefallen war, steigerte seine Erbitterung ins Unermessliche. Wie irrsinnig erschien ihm nun der Gedanke, dass er seinen Seelenfrieden hätte wiederfinden können, indem er Verniers Namen in den Schmutz zog. Jetzt wusste Constant, was er tun musste.
Er würde sie aufspüren. Und dann würde er sie töten.
Der Diener stellte ein Cognacglas neben ihn. »General Du Pont könnte jeden Moment kommen …«, murmelte er und zog sich dann zum Fenster zurück.
Erst jetzt wurde sich Constant der verstreichenden Zeit bewusst, und er nahm das braune Wachspapier in die Hand, in das das Notizbuch eingeschlagen gewesen war. Ihn wunderte, dass das Büchlein noch in der Wohnung war. Wieso hatte Vernier sein Tagebuch zurückgelassen, wenn er nicht vorhatte, zurückzukommen? Weil er so überhastet aufgebrochen war? Oder vielleicht, weil er nicht die Absicht hatte, lange fortzubleiben.
Constant leerte das Cognacglas in einem Zug und schleuderte es in den Kamin. Es zersprang in tausend funkelnde, scharfe Splitter. Der Diener zuckte zusammen. Einen Moment schien die gewalttägige Geste die Luft vibrieren zu lassen.
Constant stand auf und schob den Esszimmerstuhl genau unter den Tisch zurück. Er ging zum Kaminsims, öffnete den Glasdeckel der Sèvres-Uhr und schob die Zeiger nach hinten, bis sie auf halb acht standen. Dann schlug er die Rückseite der schweren Uhr auf die Marmorkante der Kamineinfassung, bis der Mechanismus stehenblieb. Er ging in die Hocke und legte die Uhr mit dem Zifferblatt nach unten auf die glitzernden Scherben des Cognacglases.
»Mach den Champagner auf und hol zwei Gläser.«
Der Mann tat wie geheißen. Constant ging zur Chaiselongue. Er ballte die Faust in Marguerite Verniers Haar und hob ihren Kopf in seine Arme. Süßlich metallischer Schlachthausgeruch umwehte sie. Die hellen Kissen um sie herum waren dunkelrot gefärbt, und auf ihrer Brust war ein nasser Blutfleck, wie die übergroße Blüte einer Treibhausblume.
Constant goss ein klein wenig Champagner in Marguerites Mund. Er drückte den Rand des Glases gegen ihre aufgeplatzten Lippen, bis eine ganz schwache Spur Lippenstift daran haften blieb, dann füllte er das Glas zur Hälfte mit Champagner und stellte es auf den Tisch neben ihr. Auch in das zweite Glas goss er ein wenig Champagner, danach legte er die Flasche auf den Boden. Langsam blubberte die Flüssigkeit heraus, zog einen schaumigen Streifen über den Teppich.
»Sind unsere niederträchtigen Freunde des Vierten Standes informiert, dass es heute Abend etwas für sie geben könnte?«
»Ja, Monsieur.« Für einen kurzen Moment verlor das Gesicht des Dieners seine maskenhafte Starre. »Die Madame … Ist sie tot?«
Constant antwortete ihm nicht.
Der Diener bekreuzigte sich. Constant ging zum Büfett und nahm eine gerahmte Fotografie in die Hand. Auf dem Bild saß Marguerite in der Mitte, und ihre Kinder standen hinter ihr. Er las den Namen des Ateliers und das Datum. Oktober 1890 . Die Tochter trug das Haar noch offen. Ein Kind.
Der Diener hustete. »Reisen wir nach Rouen, Monsieur?«
»Rouen?«
Er rang nervös die Hände, erkannte den Blick in den Augen seines Herrn. »Verzeihung, Monsieur, aber sagte Madame Vernier nicht, ihr Sohn und ihre Tochter sind nach Rouen
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