Die achte Karte
gefahren?«
»Ah. Ja, sie hat mehr Mut bewiesen … Entschlossenheit … als ich erwartet hatte. Aber Rouen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ihr Ziel war. Vielleicht wusste sie es wirklich nicht.«
Er warf dem Mann die Fotografie zu.
»Zieh los und hör dich nach dem Mädchen um. Irgendwer wird schon reden. Irgendwer redet immer. Die Leute werden sich an sie erinnern.« Er lächelte kalt. »Sie wird uns zu Vernier und seiner Hure führen.«
Kapitel 27
∞
Domaine de la Cade
L éonie stieß einen Schrei aus und fuhr hoch. Das Herz pochte ihr wild gegen die Rippen. Die Kerze war erloschen und das Zimmer in Dunkel gehüllt. Für einen Moment glaubte sie, wieder im Salon in der Rue de Berlin zu sein. Dann schaute sie nach unten, sah Monsieur Baillards Monographie auf dem Kissen liegen und begriff.
Ein Alptraum.
Von Dämonen und Gespenstern, von Phantomen und klauenbewehrten Wesen und den alten Ruinen, wo die Spinne ihr Netz spinnt. Die leeren Augenhöhlen von Geistern.
Léonie sank nach hinten gegen das hölzerne Kopfteil, wartete darauf, dass ihr rasender Puls sich beruhigte. Bilder einer steinernen Grabstätte unter einem grauen Himmel, verwitterte Girlanden um ein abgenutztes Schild. Ein Familienwappen, vor langer Zeit besudelt und entehrt.
So finstere Träume.
Ihr Pulsschlag wollte sich nicht beruhigen, schien im Gegenteil immer lauter zu hämmern.
»Madomaisèla Léonie? Madama lässt fragen, ob Sie etwas brauchen.«
Erleichtert erkannte Léonie Marietas Stimme. »Madomaisèla?«
Léonie riss sich zusammen und rief.
»Viens.«
Ein kurzes Rütteln an der Tür, dann: »Verzeihung, Madomaisèla, aber es ist abgeschlossen.«
Léonie konnte sich nicht erinnern, den Schlüssel umgedreht zu haben. Geschwind schob sie die kalten Füße in ihre seidenen
savates
und lief zur Tür, um sie zu öffnen.
Marieta machte einen raschen Knicks. »Madama Lascombe und Sénher Vernier lassen fragen, ob Sie ihnen Gesellschaft leisten möchten.«
»Wie spät ist es denn?«
»Fast halb zehn.«
So spät.
Léonie rieb sich den Alptraum aus den Augen. »Selbstverständlich. Ich komme allein zurecht. Richte ihnen bitte aus, dass ich gleich komme.«
Sie schlüpfte in die Unterwäsche und zog ein schlichtes Abendkleid über, nichts Übertriebenes. Sie steckte ihr Haar mit Kämmen und Nadeln hoch, tupfte sich ein wenig Eau de Cologne hinter die Ohren und auf die Handgelenke und begab sich nach unten in den Salon.
Als sie eintrat, standen sowohl Anatole als auch Isolde auf. Isolde trug lediglich ein hochgeschlossenes türkisblaues Kleid mit halben Ärmeln, die mit schwarzen Glasperlen geschmückt waren. Sie sah hinreißend aus.
»Verzeiht, dass ich euch habe warten lassen«, entschuldigte sich Léonie und küsste zuerst ihre Tante, dann ihren Bruder.
»Wir haben schon nicht mehr mit dir gerechnet«, sagte Anatole. »Was möchtest du? Wir trinken Champagner – nein, Verzeihung, Isolde, keinen Champagner. Möchtest du auch ein Glas? Oder etwas anderes?«
Léonie runzelte die Stirn. »Keinen Champagner?«
Isolde lächelte. »Er scherzt. Es ist ein Blanquette de Limoux, kein Champagner, aber ein einheimischer Wein, der sehr ähnlich ist. Ein wenig lieblicher und leichter, stillt den Durst besser. Ich gestehe, er schmeckt mir inzwischen sehr gut.«
»Danke«, sagte Léonie und ließ sich ein Glas reichen. »Ich habe angefangen, Monsieur Baillards Büchlein zu lesen. Und ehe ich mich’s versah, klopfte Marieta an die Tür, und es war schon nach neun.«
Anatole lachte. »Ist es so langweilig, dass du eingeschlafen bist?«
Léonie schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Es war faszinierend. Anscheinend ranken sich um die Domaine de la Cade – oder genauer gesagt um den Ort, auf dem das Gut und das Haus heute stehen – seit alter Zeit zahlreiche Sagen und Legenden. Geister, Teufel, Gespenster, die des Nachts umgehen. In den meisten Geschichten kommt eine blutdürstige schwarze Bestie vor, halb Teufel, halb Tier, die in schlechten Zeiten das Land heimsucht, um Kinder und Vieh zu rauben.«
Anatole und Isolde wechselten Blicke.
»Monsieur Baillard meint«, fuhr Léonie fort, »dass es hier in der Gegend deshalb auch so viele Bezeichnungen gibt, die auf diese übernatürliche Vergangenheit verweisen. Er erzählt beispielsweise eine Geschichte über einen See im Massif de Tabe, den Étang du Diable, der angeblich eine Verbindung zur Hölle hat. Wenn man einen Stein hineinwirft, steigen offenbar schwefelige
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