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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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beigebracht hatte, und rief sich schöne Erinnerungen ins Gedächtnis, um die bösen zu verdrängen. Jetzt schob sie die schmerzliche Erinnerung an ihre weinende Mutter beiseite und vernahm stattdessen Marys Stimme in ihrem Kopf. Was Mütter eben so sagen. Die vielen Male, wenn sie ganz verdreckt nach Hause gekommen war, die Hose an den Knien aufgerissen, mit Kratzern und Bissen übersät. Wenn Mary jetzt hier wäre, würde sie sich Sorgen machen, weil Meredith auf eigene Faust losgezogen war und sich irgendwohin gewagt hatte, wo sie nichts verloren hatte, wie immer.
    Unverbesserlich.
    Das Heimweh überkam sie wie eine Welle. Zum ersten Mal, seit sie vor zwei Wochen nach Europa abgeflogen war, wünschte Meredith sich nichts sehnlicher, als sicher und geborgen mit einem Buch in ihrem Lieblingssessel zu sitzen, eingewickelt in die alte Steppdecke, die Mary für sie genäht hatte, als sie in der fünften Klasse ein halbes Jahr lang nicht zur Schule gegangen war. Zu Hause statt mutterseelenallein in einem vergessenen Winkel Frankreichs auf einer Spurensuche, die sich durchaus als verlorene Liebesmüh entpuppen konnte.
    Fröstelnd und elend sah Meredith nach, wie spät es war. Ihr Handy hatte keinen Empfang, zeigte aber die Uhrzeit an. Erst fünfzehn Minuten waren vergangen, seit sie ihr Auto abgestellt hatte. Sie ließ die Schultern hängen. Die Straße war bestimmt noch nicht wieder frei.
    Anstatt wieder die Allée des Bains de la Reine hochzugehen, blieb sie auf dem Fußweg, der hinter den auf Flusshöhe stehenden Häusern verlief. Von hier aus konnte sie die Betonunterseite des Schwimmbads sehen, das, auf Pfeiler gestützt, über den Pfad ragte. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, waren die Umrisse der Originalgebäude besser zu erkennen. Im Schatten sah sie die leuchtenden Augen einer Katze, die zwischen den Stützen umherschlich. Abfall, Papierfetzen, Getränkedosen trieben im Wind, verfingen sich an Mauern und Drähten.
    Der Fluss beschrieb eine Biegung nach rechts. Auf der gegenüberliegenden Seite sah Meredith oben in der Mauer, die neben der Straße verlief, ein Tor, von dem aus man bis hinunter zu dem Pfad am Flussufer gelangen konnte. Die Straßenlampen waren angegangen, und sie konnte gerade noch eine alte Frau erkennen, die in geblümtem Badeanzug und Badekappe mit dem Gesicht nach oben in einem Ring aus Steinen im Wasser lag, ihr Handtuch ordentlich auf dem Gehweg gefaltet. Meredith durchlief ein mitfühlender Schauder, doch dann bemerkte sie, dass von der Wasseroberfläche Dampf aufstieg. Neben der Frau trocknete sich gerade ein magerer alter Mann mit schrumpeligem braunem Körper ab.
    Meredith bewunderte den Mut der beiden, obwohl sie sich angenehmere Arten vorstellen konnte, einen kühlen Oktoberabend zu verbringen. Sie versuchte, sich die glorreiche Zeit des Fin de Siècle vorzustellen, als Rennes-les-Bains ein blühender Kurort gewesen war. Die rollbaren Badekabinen, Damen und Herren in altmodischen Badeanzügen, die in das warme Heilwasser stiegen, während ihre Dienstboten und Pflegerinnen hier am Flussufer warteten.
    Es gelang ihr nicht. Wie ein Theater, nachdem der Vorhang gefallen ist und das Licht ausgemacht wurde, so wirkte auch Rennes-les-Bains zu trostlos für derartige Höhenflüge der Vorstellungskraft.
    Eine schmale Treppe ohne Geländer führte zu einer Fußgängerbrücke aus blaugestrichenem Metall hinauf, die das linke mit dem rechten Ufer verband. Meredith erinnerte sich an das Schild von vorhin: LE PONT DE FER . Es war ziemlich genau an der Stelle gewesen, wo sie den Mietwagen geparkt hatte.
    Meredith stieg hinauf. Zurück in die Zivilisation.

Kapitel 29
    W ie Meredith befürchtet hatte, war die Straße noch immer gesperrt. Ihr Mietwagen stand genauso da, wie sie ihn abgestellt hatte, hinter dem blauen Peugeot. Inzwischen hatten sich noch zwei weitere Autos auf dem Bürgersteig dazugesellt.
    Sie ging am Jardin Paul Courrent vorbei die Hauptstraße hinunter auf die Lichter zu, dann bog sie nach rechts in eine sehr steile Straße, die anscheinend schnurstracks den Berg hinaufführte. Sie gelangte auf einen Parkplatz, der erstaunlich voll war, wo die Stadt doch so leer wirkte. Sie studierte eine Informationstafel für Touristen, ein rustikales Holzschild, das Spaziergänge zu nahe gelegenen Ausflugszielen anpries: L’Homme Mort, La Cabanasse, La Source de la Madeleine sowie eine Wanderung in ein Nachbardorf namens Rennes-le-Château.
    Es regnete nicht, aber die Luft war feucht geworden.

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