Die achte Offenbarung
es an Paulus zu lächeln. Dass seine Großmutter mit demjenigen, für den das Buch bestimmt war, ihn gemeint haben könnte, war eine hübsche, romantische Vorstellung – mehr aber auch nicht. Trotzdem gab es kaum etwas, das ihn mehr hätte reizen können als die Aufgabe, ein solches mittelalterliches Dokument zu entziffern, noch dazu eines, das sich lange im Besitz seiner Familie befunden hatte.
»Wäre es möglich, dass ich die Seiten kopiere, damit ich versuchen kann, sie zu entschlüsseln?«, fragte er.
»Kopieren? Sie wollen es kopieren?« Lieberman wirkte brüskiert. Seine buschigen weißen Augenbrauen waren tief herabgezogen, was seinem Gesicht einen finsteren Ausdruck verlieh. »Wissen Sie, was meine Vater hat riskiert, das Buch zu schmuggeln aus Nazideutschland? Er hat es all die Jahre beschützt, und ich komme hier her, um es Ihnen zu geben, und Sie wollen es kopieren? Haben Sie nicht gelesen, was dort steht in die Brief, dass es ist ein Geheimnis, das nicht kommen darf in falsche Hand? Sie dürfen dieses Buch nicht kopieren! Niemand darf es sehen!«
»Entschuldigung, aber … ich dachte, ich könnte vielleicht versuchen …«
Liebermans Gesicht hellte sich auf. »Ah, ich glaube, Sie haben mich verstanden falsch. Ich möchte, dass Sie das Buch behalten. Und den Brief. Es ist Ihr Erbe, von Ihrer Großmutter.«
»Aber … wenn dieses Buch aus dem Mittelalter stammt, dann ist es vielleicht sehr wertvoll …«
Lieberman setzte wieder sein breites Grinsen auf. »Wertvoll? Ich bin ein Händler von Gold und Edelsteine. Ich weiß, was ist wertvoll. Ich habe Geld genug, mehr als ein alter Mann haben soll. Ich brauche kein altes Buch, das ich nicht verstehe. Das Schicksal hat mir dieses Buch gegeben, damit ich es Ihnen gebe. Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Nun müssen Sie tun, was Sie können, um das Geheimnis zu entdecken.«
Paulus strich sanft über den Ledereinband. Sein Herz schlug heftig. Dennoch gebot ihm sein Anstand zu widersprechen. »Ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann, Mr. Lieberman …«
Liebermans Gesicht wurde wieder ernst. Diesmal sprach er ruhig, aber dafür umso eindringlicher. »Mr. Brenner, das ist kein Geschenk. Das ist eine Aufgabe. Ihre Großmutter hat viel getan für meine Familie. Sie hat ihre Last getragen. Ich weiß nicht, ob dieses Buch ist Fluch oder Segen, aber ich weiß, Sie müssen es nehmen und herausfinden, was es bedeutet.«
Paulus erwiderte Liebermans intensiven Blick. Was auch immer diese Handschrift tatsächlich für eine Bedeutung hatte, diesem alten Mann war es äußerst wichtig, dass er es als seine Aufgabe annahm, sie zu entschlüsseln. Lieberman war dafür eigens nach Deutschland gereist. Es wäre ein Affront gewesen, das Buch zurückzuweisen.
»Danke, Mr. Lieberman. Ich verspreche, ich werde alles tun, um das Geheimnis dieses Buches zu lüften.«
Diesmal lächelte Lieberman nicht. »Ja, das ich habe gewusst. Schließlich Sie sind Grandson von eine sehr mutige Frau.«
3.
Hamburg, Freitag 22:15 Uhr
Paulus betrachtete das Manuskript auf seinem Schreibtisch voller Vorfreude. Er konnte es kaum erwarten, das Geheimnis der seltsamen Glyphen zu lüften.
Den Rest des Abendessens über hatte er sich mit Lieberman über belanglose Dinge unterhalten. Der Amerikaner war ein charmanter Gesprächspartner, der einen trockenen Humor hatte und sich selbst nicht allzu ernst nahm. Er hatte Paulus erzählt, wie er in den Sechzigerjahren das kleine Schmuckgeschäft seines Vaters übernommen und begonnen hatte, in größerem Stil mit Gold und Edelsteinen zu handeln, bis er es schließlich zu einem kleinen Vermögen gebracht hatte.
Paulus hatte kaum zugehört – seine Gedanken waren bei dem Manuskript gewesen.
Voller Dankbarkeit hatte er sich schließlich bei Lieberman verabschiedet, der am Ende auch noch die Rechnung übernommen hatte. Der Amerikaner hatte angekündigt, am nächsten Morgen in seine Heimatstadt Boston zurückzufliegen. Er hatte Paulus seine Handynummer gegeben und ihn gebeten, ihn zu informieren, wenn er etwas über das Manuskript herausgefunden hatte – »Sofern es etwas ist, das Sie glauben zu dürfen teilen mit mir«, wie er sich ausgedrückt hatte.
Paulus ging normalerweise relativ früh zu Bett, doch an Schlaf war jetzt nicht zu denken. Also machte er sich an die Arbeit.
Als Erstes zählte er die Seiten – es waren, den ledernen Einband nicht eingerechnet, 52, von denen 47 beschriebenwaren. Sie schienen in vier Abschnitte oder Kapitel unterteilt zu
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