Die achte Offenbarung
stand er für das Gewissen des Mönchs,das diesem am Ende seines Lebens befahl, sich ein lange gehütetes Geheimnis von der Seele zu schreiben. Das würde auch erklären, warum das Dokument verschlüsselt war: So hatte er sicherstellen können, dass das Geheimnis erst nach seinem Tod bekannt wurde. Möglicherweise hatte er irgendwo ein Schlüsseldokument aufbewahrt, das erst nach seinem Tod zugänglich werden sollte. Vielleicht war es nie gefunden worden.
Sanft strich Paulus mit dem Finger über den Rand der Seite. Das Pergament fühlte sich uneben und doch glatt an. Was für eine aufregende Vorstellung, dass dieses Dokument vielleicht jahrhundertelang im Besitz seiner Familie gewesen war!
War der Autor womöglich ein Vorfahr von ihm gewesen? Was mochte ihn so sehr belastet haben, dass er es unbedingt noch vor seinem Tod aufschreiben, jedoch gleichzeitig sicherstellen musste, dass es nicht mehr zu seinen Lebzeiten ans Licht kam? Hatte er ein Verbrechen begangen? Wahrscheinlicher war, dass er etwas beobachtet hatte oder sonstwie in etwas verwickelt worden war, das auf keinen Fall bekannt werden durfte. Einen Mord? Ein geheimes Treffen von Staatsoberhäuptern und Kirchenfürsten in dem abgelegenen Kloster? Das wäre eine wissenschaftliche Sensation. Aber vielleicht war es nur eine nach heutigen moralischen Maßstäben harmlose Gotteslästerung, die einen frommen Mann im Mittelalter in schwere Gewissensnöte hatte stürzen können.
Es war Viertel nach vier morgens, als Paulus auf unerwartete Schwierigkeiten stieß.
Er betrachtete nachdenklich den Text, den er bisher entschlüsselt und der besseren Lesbarkeit halber ins Neuhochdeutsche übertragen hatte:
Im Angesicht des Herrn, Gott des Allmächtigen, der mich nun bald zu sich rufen wird, seines eingeborenen Sohnes Jesus Christus, des heiligen Geistes, des heiligen Bernhard und der Gemeinschaft aller Heiligen lege ich, Hermo von Lomersheim, Bruder der Zisterzienser unserer lieben Mutter zu Mulenbrunn, Zeugnis ab. Denn zum dritten Mal ist mir der Engel des Herrn erschienen, und er sprach zu mir: Lege Zeugnis ab und schreibe auf, was ich dir gesagt habe und was du in deinem Herzen bewahrt hast, wie auch das, was ich dir noch sagen werde. Und ich werde dir den Weg weisen, wie du dieses aufzuschreiben hast, auf dass die Worte zur rechten Zeit erkannt werden, nicht aber vorher.
Dreimal wurde mir das größte Glück zuteil, die Gnade und Weisheit Gottes zu empfangen. Dreimal sandte Er Seinen Engel, um mir die Geheimnisse zu offenbaren. Doch welche Bürde erlegte Er mir auf! Die Worte, die Er zu mir sprach, ließen mein sündiges Herz erbeben. Die Last des Wissens war schwer zu tragen, und mit niemandem durfte ich sie teilen. So bin ich erleichtert, dass Er mir erlaubt hat, sie niederzuschreiben, auf dass die Worte von den richtigen Augen gelesen und gedeutet werden, und ich nun endlich die Last ablegen darf. Beruhigt trete ich vor den Herrn, unseren gütigen und allmächtigen Gott, meinen Schöpfer, und erwarte Sein Urteil. Denn wahrhaftig habe ich alles getan, was mir aufgetragen wurde, und nie ein einziges Wort darüber verloren.
Du, der du dies liest, bist von Gott gesegnet, denn Er öffnet dir die Augen und lässt dich an Seiner Weisheit teilhaben. So wisse denn, was mir der Engel offenbart hat, auf dass Gottes Wille geschehe und die frommen Menschen ihm zum Wohlgefallen gereichen.
Dreimal erschien mir das Licht im Laufe meines langen und von der Gnade Gottes behüteten Lebens.
Beim ersten Mal war ich noch jung und fürchtete mich sehr, doch der Engel erfüllte mich mit dem Frieden des Herrn. Fürchte dich nicht, sprach er, denn du wurdest auserwählt, die Botschaft des Herrn zu empfangen und in die Zukunft zu tragen, auf dass die Menschen sie zur rechten Zeit erkennen und verstehen mögen. Diese Zeit aber wird nicht kommen, solange deine sterbliche Hülle auf der Erde weilt, und nicht hundert noch zweihundert noch fünfhundert Jahre nach dir. So darfst du mit niemandem über das reden, was ich dir zeigen werde. Dies waren seine Worte.
Ich hörte seine Stimme in meinem Kopf wie den Schall von Posaunen, doch ich verstand sie nicht. Wie sollte ich Gottes Botschaft in die Zukunft tragen, wenn ich sie mit niemandem teilen durfte? Doch der Engel erkannte meine Beschränktheit und ließ mich an der unendlichen Weisheit des allmächtigen Gottes teilhaben. Bewahre die Worte in deinem Herzen, sagte er, und vergesse nichts. Doch sprich mit niemandem darüber. Auch darfst
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