Die achte Offenbarung
gewesen, hatte jedoch gegenüber Pergament lange Zeit als minderwertig gegolten. Mit der Verbreitung des Buchdrucks änderte sich das im Laufe des 15. Jahrhunderts, und gegen dessen Ende wurde das teure Pergament nur noch für besonders kostbare Handschriften verwendet. Das war einer der Gründe dafür gewesen, dass Paulus ebenso wie sein Freund Frank die Entstehung des Manuskripts auf spätestens Mitte des 15. Jahrhunderts datiert hatte. Wenn es erst nach 1517 entstanden war, dann war das schon ziemlich ungewöhnlich.
»Was ist los?«, fragte Mele, als sie ihm die Wohnungstür öffnete. »Stimmt was nicht?«
Er sah sie verblüfft an. Er war sich nicht bewusst gewesen, dass sein Gesichtsausdruck so leicht zu lesen war. »Nichts stimmt!«, sagte er, während er das Buch aus der Laptoptasche holte und es auf den Wohnzimmertisch legte. »Gar nichts!«
»Ich verstehe nur Bahnhof.«
»Geht mir genauso. Hermo von Lomersheim behauptet, er sei 1411 zum Kölner Dom gepilgert. Aber Luthers Thesen, die in dem Buch erwähnt werden, wurden erst 1517 veröffentlicht. Zu dem Zeitpunkt hätte Hermo demnach mindestens 120 Jahre alt sein müssen. Also kann das nicht sein. Aber warum behauptet er es dann? Und wenn er gar nicht der Autor war, wer dann? Wer hat so einen Aufwand getrieben, um einen Text zu verschlüsseln, der gar keinen Sinn ergibt?«
»Wieso ergibt das denn keinen Sinn? Die Ereignisse, die in dem Buch beschrieben sind, sind doch tatsächlich passiert.«
»Ja eben! Wieso sollte sich jemand die Mühe machen, etwas zu verschlüsseln, was sowieso jeder weiß?«
Mele sah ihn nur stumm an. Es schien Paulus, als warte sie darauf, dass er selbst die richtige Schlussfolgerung zog.
»Blödsinn!«, sagte er entschieden. »Komm mir nicht wieder mit diesem Prophezeiungsquatsch! Es muss einen anderen Grund für diesen ganzen Aufwand geben.«
»Wie auch immer, ich frühstücke jetzt erst mal«, sagte Mele.
Paulus stellte fest, dass er ebenfalls Hunger hatte, und folgte ihr in die Küche. Dort fiel ihm ein, dass er sich noch nicht im Institut abgemeldet hatte. Er rief Daisy an, die Sekretärin von Professor Degenhart. Er sagte ihr, dass erwegen einer dringenden Familienangelegenheit ein paar Tage freinehmen müsse. Das Manuskript und die damit verbundenen Ereignisse erwähnte er nicht. Er war sicher, dass Degenhart, wenn er von dem Buch erfuhr, alles daransetzen würde, die Entschlüsselung als Leistung seines Instituts zu verkaufen. Er würde den ganzen Ruhm dafür einheimsen. Falls Paulus nicht mitspielte, würde er womöglich seine Assistentenstelle verlieren.
Er spürte an Daisys Reaktion, dass ihn niemand ernsthaft vermisste. Das nächste Seminar musste er erst am kommenden Montag halten, es gab also nicht einmal einen Grund, jemanden zu bitten, ihn zu vertreten.
Ihm kam in den Sinn, dass etwas in seinem Leben falsch lief, wenn es niemanden störte, dass er nicht da war.
Das Frühstück bestand aus Toast mit Margarine, Marmelade und Instantkaffee. Paulus hätte gern eine Schale Müsli gegessen, aber es war keine Milch da. Er räumte das Geschirr in die Spülmaschine und stellte sie an. Dann steckte er zwanzig Euro in eine Blechdose mit der Aufschrift Für Kaffee .
Nach dem Frühstück machte er sich wieder an die Arbeit. Doch das Manuskript wurde immer rätselhafter, je mehr er entschlüsselte.
Angeklagt von jenen, die falsches Tun bewahren wollen, wird er verurteilt und aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgestoßen, doch viele werden ihm folgen, denn er wird sich nicht dem Worte der Kurie beugen, sondern nur dem Worte seines Gewissens. Seine Stimme aber wird das schneidende Schwert sein, das die Welt spaltet.
Diese Zeilen bestätigten, dass sich der vorhergehende Abschnitt auf Martin Luther bezogen hatte. Allerdings verschobensie das Entstehungsdatum des Manuskripts noch weiter nach hinten. Denn Luthers Auseinandersetzung mit der Kirche hatte Jahre gedauert, und seine Thesen waren bloß der Anfang eines Spaltungsprozesses gewesen, der erst hundert Jahre später mit dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs seinen Abschluss fand. Bezog sich der letzte Satz etwa auf dieses Ereignis, das Europa buchstäblich wie ein Schwert in der Mitte durchtrennt hatte? Dann wäre das Manuskript frühestens im 17. Jahrhundert entstanden.
Er fuhr mit der Entzifferung fort, während ihm Mele stumm zusah.
Dieses war die dritte Offenbarung.
Verzweiflung ergriff mich, als der Engel mir dies sagte, denn die Welt ist verloren, wenn sich
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