Die achte Offenbarung
selbst jene von Gott abwenden, die in seinem Namen reden und den wahren Glauben verbreiten sollen. Wenn sie, verblendet von Gier und törichtem Streben nach irdischer Macht, sich von der Liebe Gottes abkehren und falsches Zeugnis ablegen und ihre Nächsten richten und der Verlockung der Sünde erliegen, dann hat die Schlange obsiegt. So weinte ich um ihre Seelen.
Der Engel aber tröstete mich. Er sprach: Jene, die reinen Herzens sind und die Liebe Gottes in ihrem Geiste tragen, werden Eingang finden ins Himmelreich.
Du aber, der du dieses liest und die Zeichen erkennst, bist meinem Weg gefolgt, und so bitte ich dich: Folge mir weiterhin. Denn der Engel erschien
mir erneut. Dieses geschah, als ich im Frieden des Herrn im Kreuzgang wandelte, an einem Frühlingsmorgen im Jahre des Herrn vierzehn hundert
neunundzwanzig.
Paulus hielt mit der Arbeit inne. Die Jahresangabe war eindeutig.
»Ich hab’s ja geahnt«, sagte er mit einem Seufzer.
»Was ist denn?«, fragte Mele.
»Irgendwer hat uns hier einen gewaltigen Bären aufgebunden.«
»Wie meinst du das?«
»Schau mal hier, da steht eindeutig, dass dieser Mönch noch eine weitere Erscheinung gehabt hat, im Jahr 1429. Aber die Ereignisse, die er im Detail beschreibt, sind erst viel später geschehen.«
»Natürlich«, sagte Mele. »Sonst wäre es ja auch keine Prophezeiung.«
Paulus seufzte. Mele gehörte wahrscheinlich zu den Leuten, die in der Esoterik-Abteilung einer Buchhandlung in Anleitungen für Hexenrituale blätterten. Manchmal hatte er das Gefühl, dass der Aberglaube heute immer noch genauso verbreitet war wie im Mittelalter. Die Aufklärung schien an einem großen Teil der Bevölkerung spurlos vorübergegangen zu sein. Und Verlage, Wunderheiler und Astrologen machten ihr Geschäft damit wie die Scharlatane, die früher auf Marktplätzen ihr Unwesen getrieben hatten. Warum unternahm eigentlich niemand etwas gegen diese Form der Volksverdummung?
»Tut mir leid, wenn ich dich enttäusche, aber das ist keine Prophezeiung«, sagte er so geduldig wie er konnte. »Dieses Buch ist wahrscheinlich erst im 19. Jahrhundert entstanden. Vermutlich hat es ein kryptologisch interessierter Romantiker geschrieben.« Er fragte sich, ob der Autor vielleicht sogar einer seiner Vorfahren gewesen war, und wenn nicht, wie das Buch dann in die Hände seines Urgroßvaters gekommen sein mochte.
»Du meinst, es geht um eine Liebesgeschichte?«
»Nein. Die Romantik war so eine Art Gegenbewegung zur Aufklärung und der industriellen Revolution. Die Leute waren damals ein bisschen überfordert von der Geschwindigkeit, mit der sich die Welt änderte, und sehnten sich zurück nach den einfachen Verhältnissen des Mittelalters. Im Grunde war es nicht anders als heute. Damals äußerte sich das darin, dass man das Mittelalter verklärte. Goethe und Schiller schrieben ihre großen Dramen über Edelmut, Liebe und Magie. Die Gebrüder Grimm wurden nicht etwa für ihre bedeutenden sprachwissenschaftlichen Leistungen bekannt, sondern für ihre Märchensammlung. Wagner vertonte mittelalterliche Heldensagen. Ludwig II. von Bayern baute Neuschwanstein. Der Kölner Dom wurde vollendet. Überall versuchte man, die Welt der edlen Ritter, holden Jungfrauen und weisen Könige wieder aufleben zu lassen. Dieses angebliche Manuskript Hermo von Lomersheims ist nichts anderes als ein Werk der Fantasie. Jedenfalls dürfen wir nichts, was darin steht, für bare Münze nehmen.«
»Aber warum ist dann jemand so dahinter her?«
Paulus zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich auch nicht. Aber ich fürchte, dass wir die Erklärung dafür nicht im Manuskript finden, wie ich es ursprünglich gehofft hatte.«
»Und was willst du jetzt machen?«
Bevor Paulus antworten konnte, hörten sie, wie jemand die Wohnungstür aufschloss. Dirk kam ins Wohnzimmer.
»Hallo«, begrüßte er sie. Im Vergleich zu gestern schien er ausgesprochen gute Laune zu haben. »Ich habe eingekauft. Soll ich uns eine Pizza in den Ofen schieben? Ich habe Salami, Thunfisch und Champignons.«
»Das ist wirklich lieb von dir, Dirk«, sagte Mele. »Ich nehme die Thunfischpizza.«
»Dann nehme ich Champignon. Ist dir Salami recht, Paul?«
Paulus unterließ es, seinen Namen zu korrigieren. »Ja, prima. Vielen Dank!«
»Seid ihr mit dem Manuskript weitergekommen?«, fragte der Student, während er die Pizza in den Ofen schob.
»Paulus glaubt, es ist ein Fake«, sagte Mele.
Dirk blickte überrascht auf. »Ein Fake?«
»Wahrscheinlich
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