Die achte Offenbarung
über fünfhundert Jahren in einer Vision gesehen hatte, wie er hier saß und die Worte eben jenes Mönchs entzifferte? Was, wenn es doch so etwas wie Prophezeiungen gab und das Manuskript tatsächlich die Zukunft vorhersagte – vielleicht sogar über den heutigen Tag hinaus? War dies das Geheimnis, von dem im Brief seiner Großmutter die Rede war und das auf keinen Fall in falsche Hände geraten durfte?
Seine Gewissheit, dass das Manuskript nur eine Spielerei der Romantik sein konnte, war plötzlich erschüttert.Sein ganzes von Rationalität und wissenschaftlicher Vernunft geprägtes Weltbild schien feine Risse bekommen zu haben.
Paulus schüttelte den Kopf. Das war absurd! Es musste eine andere Erklärung geben, eine einfache, logische Begründung für die Existenz dieses rätselhaften Manuskripts.
»Was ist?«, fragte Mele, die still neben ihm gesessen hatte.
»Nichts«, sagte Paulus unwirsch. Er hatte nicht die geringste Lust, mit ihr wieder über irgendwelche esoterischen Theorien zu diskutieren.
Aber natürlich weckte er mit seiner Reaktion bloß ihre weibliche Neugier. Sie beugte sich über ihn und las den Text, den er zuletzt geschrieben hatte.
Zu seiner Überraschung sagte sie nichts. Stattdessen wurde sie aschfahl. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, ihre Augen weit geöffnet.
»Das hat nichts zu bedeuten«, beschwichtigte er. »Jeder Zweite heißt heute wie einer der Apostel!«
Statt zu antworten, ging sie stumm in ihr Zimmer.
Er blickte ihr verwirrt nach. War sie beleidigt, weil er den Text nicht ernst nahm? Er unterdrückte den Impuls, ihr nachzugehen und sie zu beruhigen. Hysterische Laien waren das Letzte, was ihm bei der Lösung dieses Rätsels helfen würde.
Zu allem Überfluss kam nun Dirk ins Wohnzimmer, als spüre er, dass es zwischen Paulus und Mele Spannungen gegeben hatte.
»Was ist los?«, fragte er. »Stimmt was nicht?«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Paulus eine Spur zu herausfordernd.
Dirk gab keine Antwort, sondern fragte: »Darf ich malsehen?« Er wartete Paulus’ Einverständnis nicht ab, sondern griff sich die Zettel mit der Übersetzung der letzten Zeilen.
»Und du glaubst, der letzte Satz bezieht sich auf dich?«
»Schwachsinn!«, sagte Paulus gereizt.
»Aber Mele glaubt das, nicht wahr?«
»Kann sein.«
Dirk setzte sich auf den Stuhl Paulus gegenüber. »Sie ist ein sehr sensibles Mädchen«, erklärte er. »Sie ist noch nicht wirklich erwachsen. Sie ist oft übermütig und ungestüm, aber man kann sie sehr leicht erschrecken.«
Paulus musterte den Studenten einen Moment. »Hör zu, Dirk, ich weiß nicht, was zwischen dir und Mele ist. Ist mir auch egal. Ich bin nur hier, weil jemand hinter mir her ist und Mele mir geholfen hat, ihm zu entkommen. Ich bin dankbar, dass ich hier bei euch unterschlüpfen durfte, aber ich denke, mit dem Manuskript komme ich allein klar!«
»Ich bin mir nicht so sicher, ob das wirklich nur deine Sache ist«, sagte Dirk.
»Was meinst du damit?«
»Es muss einen Grund geben, dass jemand dieses Buch so dringend haben will. Das ist sicher kein gewöhnliches historisches Dokument, das man nur aus wissenschaftlichem Interesse heraus entschlüsseln sollte. Hier geht es um viel mehr.«
»Und um was geht es deiner Meinung nach?«
»Keine Ahnung. Um Religion wahrscheinlich, möglicherweise um politische Verwicklungen, vielleicht sogar um Terrorismus. Es scheint sich ja um eine Art Prophezeiung zu handeln. So was hat für manche bestimmt eine enorme Bedeutung.«
»Was immer es ist, es ist mit Sicherheit keine Prophezeiung.Jedenfalls keine echte. Die Sache mit dem Namen des Apostels ist bloß so ein typischer Trick, den auch Wahrsager anwenden. Sie sagen etwas, das auf viele Menschen zutrifft, aber du interpretierst es als konkreten Hinweis auf dich persönlich. Es gibt Millionen Menschen, die den Namen eines Apostels tragen, und der Autor hat das ausgenutzt!«
»Und wenn es kein Trick ist?« Dirk sah ihn herausfordernd an.
»Hast du vielleicht eine bessere Erklärung?«
»Bloß, weil man etwas nicht erklären kann, heißt das nicht, dass es nicht wahr ist. Die Leute hatten jahrhundertelang keine Ahnung, dass es Elektromagnetismus gibt oder wodurch Krankheiten übertragen werden.«
»Heute wissen wir es.«
»Ja, aber wir wissen eine ganze Menge noch nicht. Wir haben zum Beispiel keine Ahnung, woraus die Dunkle Materie besteht, die 85 Prozent aller Materie des Universums ausmacht. Wir wissen nicht, warum sich
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