Die achte Offenbarung
ist das Manuskript erst im 19. Jahrhundert entstanden«, erklärte Paulus.
»Wie kommst du darauf?«
»Im Text werden Ereignisse beschrieben, die erst im 16. Jahrhundert stattfanden. Die Datumsangaben im Buch können also nicht stimmen. Ich vermute, dass es aus der Zeit der Romantik stammt, als alle Welt sich mit den Mysterien des Mittelalters beschäftigt hat. Vielleicht ist es eine frühe Form eines Rätselromans, wie sie zuletzt in den Achtzigerjahren populär waren.«
»Hmm«, sagte Dirk. »Klingt ein bisschen seltsam, meinst du nicht? Ein Rätselroman aus dem 19. Jahrhundert, als Einzelstück auf Pergament hergestellt. Wer sollte sich solche Mühe machen, und für wen? Und wieso will jemand dieses Buch um jeden Preis haben, wenn es nur ein Fake ist?«
»Keine Ahnung. Vielleicht glaubt derjenige, dass das Dokument aus dem Mittelalter stammt und wertvoll ist.«
»Vielleicht ist es das ja doch«, sagte Dirk.
Paulus konnte nicht erkennen, ob in seiner Stimme gut verborgener Sarkasmus lag oder ob er es tatsächlich ernst meinte. Bei Mele war es nicht verwunderlich, dass sie Prophezeiungen für möglich hielt, aber Dirk hatte auf Paulus bis jetzt einen aufgeklärten und vernünftigen Eindruck gemacht.
»Bisher hat sich noch jede sogenannte Prophezeiung als Humbug herausgestellt«, erwiderte er.
Dirk zuckte nur mit den Schultern und beschäftigte sich wieder mit der Pizza.
»Lass uns weitermachen«, sagte Mele. »Ich bin gespannt, was als Nächstes kommt.«
Paulus hätte sich am liebsten mit dem Dokument nach Hamburg in seine Wohnung zurückgezogen und es in Ruhe entschlüsselt. Die Aufmerksamkeit, die Mele und Dirk dem Manuskript schenkten, war ihm irgendwie unangenehm. Es schien ihm fast, als ziehe das Buch sie in seinen Bann und übe einen unheilvollen Einfluss auf die beiden aus. Aber vielleicht war er auch einfach nur genervt von ihren laienhaften Kommentaren. Und wer immer hinter ihm her war, wartete vermutlich nur darauf, dass er nach Hamburg zurückkehrte.
Er hatte erst ein paar weitere Wörter übersetzt, als Dirk verkündete, die Pizza sei fertig. Der Student hatte sogar eine Packung Vanilleeis zum Nachtisch gekauft. Paulus trank noch einen Kaffee, bevor er sich wieder an die Arbeit machte.
Nach einer Stunde hatte er die nächsten Zeilen übersetzt, bis zu dem Punkt, an dem er erneut auf eine astrologische Zeichenkette gestoßen war:
Jene Worte des Engels, die er damals zu mir sprach, verberge ich nun hinter dem Buche, das so geschmückt, eben wie ich seine
ersten Worte verbarg hinter der Offenbarung des Johannes. Und die so verborgenen Worte verbarg ich ein zweites Mal, wie der Engel es mir befohlen
hat. Ich verbarg sie hinter dem fünfundfünfzigsten der Irrtümer, welche der fromme Papst verdammen wird.
Den astrologischen Zeichen zufolge hatte Jupiter im Skorpion gestanden, Saturn in der Jungfrau, Mars im Stier und der Mond in den Fischen. Doch auf welches Ereignis bezog sich diese Konstellation? Das schien viel weniger klar zu sein als bei den historischen Ereignissen zuvor. Von was für Irrtümern war hier die Rede? Und war nicht jeder Papst fromm?
Ihm fiel ein, dass das lateinische Wort für »der Fromme«, Pius, ein gern genommener Name für einen Papst gewesen war. Pius XII. hatte die Kirche während des Zweiten Weltkriegs geführt, soweit er sich erinnerte. Er würde im Internet recherchieren müssen. Aber es waren nur noch wenige Glyphen bis zum Ende des Kapitels. Er beschloss, diese noch zu übersetzen, bevor er Dirk erneut bat, seinen Computer benutzen zu dürfen.
Doch als er die letzten Glyphen auf dieser Seite entzifferte, lief ihm ein eisiger Schauer über den Rücken.
14.
Köln, Montag 15:11 Uhr
Fassungslos starrte Paulus auf die Wörter, die er gerade entschlüsselt hatte:
Dieses wird sein, wenn alles, was ich so verborgen habe, bereits geschehen ist, auf dass der Lauf der Welt sich durch meine Worte nicht verändere. Nur du, der du den Namen des Apostels trägst, sollst die Weisheit erlangen, wenn die Zeit bestimmt ist.
Allmählich erholte er sich von seinem Schrecken. Das war Zufall. Das musste Zufall sein! Schließlich waren die Vornamen der Apostel heutzutage alles andere als selten: Johannes zum Beispiel, Philipp, Andreas, Jakob, Simon, Thomas und nicht zuletzt die modernen Formen von Petrus und Paulus, Peter und Paul.
Doch die Beklemmung wollte nicht weichen. Was, wenn sich das Manuskript tatsächlich auf ihn, Paulus Brenner, bezog? Was, wenn ihn ein Mönch vor
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