Die achte Offenbarung
Erde fünfzig Jahre vergingen, so dass er ihn am Ende seiner Reise als alten Mann wiedersehen würde, während er selbst noch jung war. Angeblich verging auch in der Nähe von schwarzen Löchern die Zeit immer langsamer, bis sie irgendwann völlig zum Stillstand kam. Paulus hatte es damals für überflüssig gehalten, zu versuchen, diese Merkwürdigkeiten wirklich zu verstehen. Sie waren ihm viel zu weit weg von den Realitäten des Lebens erschienen. Jetzt wünschte er sich, er hätte besser aufgepasst.
Was, wenn Dirk recht hatte? Was, wenn tatsächlich Botschaften aus der Zukunft gesendet worden waren? War es vorstellbar, dass die Weltgeschichte, so wie er sie kannte, durch Eingriffe aus der Zukunft gezielt verändert worden war? Was für ein ungeheurer Gedanke!
Legenden über Visionen, die angeblich den Lauf der Geschichte verändert hatten, gab es immerhin genug. Die Bibel war voll davon. Jeanne d’Arc war unter anderem aufgrund ihrer Behauptung, Erscheinungen Gottes gehabt zu haben, hingerichtet worden. Hildegard von Bingen dagegen war wegen ihrer Visionen schon zu Lebzeiten wie eine Heilige verehrt worden. Auch bedeutenden Herrschern wie Alexander, Cäsar und Karl dem Großen wurde nachgesagt, Träume und Visionen hätten ihre Taten geprägt.Manche wissenschaftlichen Entdeckungen waren angeblich ebenfalls auf Träume zurückzuführen.
Paulus hatte bisher nicht eine Sekunde darauf verschwendet, solche Behauptungen ernst zu nehmen. Was aber, wenn es sich nicht um nachträgliche Verklärungen handelte, sondern um historische Wahrheit?
Sein Verstand wehrte sich mit aller Macht gegen diese Schlussfolgerung. Es gab keine konkreten Hinweise darauf, dass es so sein könnte.
Keine Hinweise bis auf ein rätselhaftes verschlüsseltes Manuskript, das seiner Großmutter zufolge ein großes Geheimnis enthielt. Ein Geheimnis, das nicht in falsche Hände geraten durfte.
Er betrachtete das kleine Buch mit neuen Augen. Etwas Dunkles, Bösartiges schien plötzlich davon auszugehen. Etwas, das sein Weltbild zerstören konnte.
Er stand auf, ging in die Küche und machte sich einen Kaffee.
Das bittere Getränk holte ihn auf den Boden der Realität zurück. Er hatte sich für einen Moment von Dirks Geschwätz ins Bockshorn jagen lassen. Der Student mochte ein paar populärwissenschaftliche Bücher gelesen haben, aber er war Germanist, kein Physiker. Paulus brauchte bloß mit jemandem zu reden, der wirklich etwas von der Materie verstand, dann würde sich schnell herausstellen, dass diese Theorie Unsinn war!
Er wählte eine Nummer auf seinem Handy, erreichte aber nur die Mailbox. Er sprach eine kurze Nachricht auf. Dann ging er ins Wohnzimmer und machte sich mit neuer Energie an die Arbeit. Von wegen Botschaft aus der Zukunft! Er würde beweisen, dass dieses verdammte Manuskript ein Fake war. Und der beste Weg dazu war, es zu entschlüsseln.
Doch als er die letzten Zeilen noch einmal überflog, wurde ihm klar, dass das nicht so leicht sein würde.
Jene Worte des Engels, die er damals zu mir sprach, verberge ich nun hinter dem Buche, das so geschmückt, eben wie ich seine ersten Worte verbarg hinter der Offenbarung des Johannes. Und die so verborgenen Worte verbarg ich ein zweites Mal, wie der Engel es mir befohlen hat. Ich verbarg sie hinter dem fünfundfünfzigsten der Irrtümer, welche der fromme Papst verdammen wird.
Diese Sätze schienen darauf hinzudeuten, dass der nächste Abschnitt auf andere Art verschlüsselt worden war als der bisherige. Schon die ersten Glyphen auf der nächsten Seite bestätigten seinen Verdacht: Mit der Schlüsselphrase »Apocalypsis Ioannis« ergab sich nur unverständlicher Buchstabensalat.
Wie schon das vorherige Kapitel war auch dieses mit einer Illustration geschmückt. Sie zeigte ein merkwürdiges Tier mit dem gefleckten Körper eines
Leoparden und sieben Köpfen. Offensichtlich sollte das ein Hinweis auf den Schlüssel sein: »Das Buch, das so geschmückt«.
Paulus seufzte. Wie sollte er herausfinden, welches Buch mit einem solchen Wesen verziert war? War das Tier auf dem Einband abgebildet? Das war unwahrscheinlich, denn mittelalterliche Handschriften hatten selten bemalte Einbände gehabt. Aber wenn die Illustration irgendwo in einem alten Codex auftauchte, wie sollte Paulus sie finden?
Vielleicht würde Frank ihm helfen können. Er rief seinen Freund an.
»Hallo, Paulus, gibt’s was Neues von dem Manuskript? Bist du mit der Entschlüsselung weitergekommen?«
Paulus zögerte
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