Die achte Offenbarung
Außerdem hat Dirk es bestimmt nicht geklaut. Ich kenne ihn. Er ist ein anständiger Mensch. Er wird es garantiert zurückbringen.«
»Ach ja? Wie naiv bist du eigentlich? Ein anständiger Mensch hätte mich vorher gefragt und nicht einfach das Manuskript weggenommen. Wer weiß, was er damit vorhat. Verdammt, was mache ich jetzt bloß?«
Mele zuckte mit den Schultern. »Abwarten!«
»Abwarten? Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«
»Was willst du sonst machen? Dirk ist bestimmt bald wieder da.«
»Und wenn nicht? Was, wenn er das Buch an irgendeinen Antiquitätenhändler verhökert?«
»Blödsinn! So was würde er nie tun!«
»Und warum hat er es dann weggenommen? Und all meine Aufzeichnungen …« Paulus stockte, als er begriff, was geschehen sein musste. »Ach du Scheiße!«, rief er laut aus.
»Was ist?«
»Dieser Vollidiot denkt, er kann das Manuskript auf eigene Faust entschlüsseln! Er muss etwas rausgefunden haben. Vielleicht hat er einen Hinweis entdeckt, wo das Schlüsselbuch zu finden ist. Anstatt mir etwas zu sagen, klaut er das Buch und meine Aufzeichnungen und macht sich auf den Weg dorthin.«
»Dann ist es doch umso besser!«
»Umso besser? Sag mal, merkst du noch was?«
»Ich bin vielleicht nicht so schlau wie du, aber ist es nicht im Grunde egal, wer von euch das Manuskript entschlüsselt?«
»Nein, ist es nicht, verdammt! Dirk hat doch überhaupt keine Ahnung, was er da tut. Er ist Germanistikstudent, kein Historiker!«
»Anscheinend hat er etwas herausgefunden, was dir entgangen ist. Ist dir mal der Gedanke gekommen, dass das, was gerade passiert, vielleicht notwendig ist? Dass du ohne Dirks Hilfe nicht weiterkommen würdest? Dass das alles Teil des Plans ist?«
»Jetzt fang bloß nicht wieder mit diesem Auserwählten-Scheiß an!« Paulus musste sich zusammennehmen, um sie nicht anzubrüllen. »Ich kenne mich mit mittelalterlicher Kryptologie aus. Ich brauche keine Hilfe von Laien, schon gar nicht von welchen, denen jedes wissenschaftliche Denkvermögen fehlt und die jeden Blödsinn für bare Münze nehmen!«
Mele traten Tränen des Zorns in die Augen. »Ach ja? Ohne diese Hilfe von Laien ohne wissenschaftliches Denkvermögen wärst du jetzt wahrscheinlich in der Leichenhalle, du verdammter bornierter Idiot! Aber mach doch deinen Scheiß alleine, wenn du meinst, auf Hilfe verzichten zu können!« Sie stürmte an ihm vorbei in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Paulus blickte ihr betreten nach. Er wusste, dass er ungerecht zu ihr gewesen war. Aber dass sie diesen Blödian Dirk verteidigte, ging ihm entschieden gegen den Strich. Was der Student getan hatte, war durch nichts zu rechtfertigen! Außerdem brachte er sich und das Manuskript durch sein unüberlegtes Handeln in Gefahr. Der Araber hatte Paulus in Köln vermutlich nur aufgespürt, weil er wusste, was in dem Buch stand und wo die Hinweise verborgen waren, die man für die Entschlüsselung brauchte. Da er Paulus’ Spur hier in Köln verloren hatte, war es nur logisch, dass er sich in der Nähe des Schlüsselbuchs auf die Lauer legte. Dirk rannte möglicherweise geradewegs in eine Falle.
Er wählte erneut die Nummer des Studenten undsprach ihm eine Warnung auf die Mailbox. Dann rief er Frank an.
»Ich bin gerade in einem Meeting«, sagte sein Freund. »Kann ich dich später zurückrufen? Heute Abend vielleicht?«
»Bitte, Frank, es ist dringend. Ich muss unbedingt wissen, ob du etwas über die Zeichnung rausgefunden hast, die ich dir geschickt habe.«
»Also schön. Moment.« Er hörte, wie Frank sich bei jemandem entschuldigte.
»Was ist denn so dringend, dass du mich aus einem Meeting mit meinem Chef rausholst?«, fragte er kurz darauf.
»Ich kann dir das jetzt nicht erklären. Hier überschlagen sich gerade die Ereignisse. Auf jeden Fall muss ich unbedingt wissen, wo das Buch ist, in dem sich die Zeichnung befindet.«
»Wo bist du denn gerade?«
»In Köln. Kannst du mir jetzt bitte sagen, ob du was rausgefunden hast?«
»Ja, habe ich. Die Zeichnung ähnelt stark einem Holzschnitt aus einer Ausgabe der Apokalypse des Johannes, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts entstanden sein muss. Es gibt nur noch zwei erhaltene Exemplare davon. Eines befindet sich in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library an der Yale University in New Haven, also genau dort, wo auch das Voynich-Manuskript aufbewahrt wird.«
»Und das andere?«
»In der Universitätsbibliothek in Heidelberg, in der Sammlung Codices Palatini
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