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Die achte Offenbarung

Die achte Offenbarung

Titel: Die achte Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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brauchten.
    »Es ist schön hier«, sagte Mele.
    »Ja.« Paulus wurde einfach nicht schlau aus ihr. Mal erschien sie fast schüchtern, dann wieder wild entschlossen und draufgängerisch, mal kindlich naiv, dann wieder pragmatisch und clever. Eben noch hatte sie ihn zornig angefahren, nun saßen sie hier wie ein Paar auf einer Urlaubsreise. Sie hatte ein ungestümes, launenhaftes Wesen, das ihn auf eine unerklärliche Weise anzog, obwohl sie so ganz anders war als er selbst.
    Er ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wäre, mit den Fingerspitzen über ihre Wange zu streichen, sanft ihre vollen Lippen zu berühren …
    Sie blickte ihn an. »Woran denkst du?«
    Rasch wandte er den Blick ab. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Er war nicht mehr rot geworden, seit er ein Teenager gewesen war. Was war bloß mit ihm los?
    »Ich … ich habe daran gedacht, wie es früher hier gewesen sein muss«, stotterte er.
    Sie lächelte. »Du weißt bestimmt eine Menge darüber.«
    Ihm gefiel der bewundernde Klang in ihrer Stimme. »Na ja, das ist schließlich mein Beruf.«
    »Was ist mit dir? Wie ist deine eigene Geschichte?«
    Paulus zuckte mit den Schultern. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Mein Vater war Bundeswehroffizier. Er ist vor zehn Jahren an Lungenkrebs gestorben. Hat geraucht wie ein Schlot und immer behauptet, das mit dem Krebsrisiko sei übertrieben. Ich glaube, meinen Dickkopf habe ich von ihm. Meine Mutter hat ihn verlassen, als ich acht war, und einen Filmproduzenten geheiratet, ein arrogantes Arschloch. Ich musste mit nach München ziehen, obwohl ich viel lieber bei meinem Vater geblieben wäre. Sobald ich Abi hatte, bin ich ausgezogen und zurück nach Hamburg, aber da war er schon schwer krank.«
    »Das tut mir leid.«
    »Schon okay. Er war auch schon zweiundsiebzig, als er gestorben ist. Meine Mutter war fast zwanzig Jahre jünger als er. Er hat sie auf einer Friedensdemo kennengelernt.«
    »Erzähl mir von deiner Großmutter. Die, der das Buch gehörte.«
    »Ich weiß nicht viel über sie. Sie wurde verhaftet, als mein Vater elf Jahre alt war, und starb während des Krieges in einem Arbeitslager. Mein Großvater brachte sich kurz darauf um, vermutlich, um selbst der Verhaftung zu entgehen, und mein Vater wurde in ein Erziehungsheimgebracht. Nach dem Krieg hat mein Vater alles versucht, um herauszufinden, warum sie verhaftet wurde, doch die Nazis hatten alle Unterlagen vernichtet. Erst seit der Begegnung mit Lieberman weiß ich, dass sie Juden geholfen hat, indem sie Ahnenpässe fälschte. Ich wünschte, mein Vater hätte das gewusst. Er wäre sehr stolz gewesen.«
    »Du bist bestimmt auch stolz auf sie, oder?«
    »Ja. Es bedeutet mir sehr viel, dass Lieberman mir das Buch gegeben hat, das ihr so wichtig war. Deswegen kann ich es Dirk nicht verzeihen, dass er es geklaut hat. Ich weiß nicht, was ich mit ihm mache, wenn er es verliert oder beschädigt!«
    »Das wird er nicht«, sagte Mele. »Glaub mir, alles geschieht aus einem Grund.«
    Um seinen aufwallenden Zorn einzudämmen und sich nicht wieder auf eine Diskussion über Schicksal und Vorsehung einlassen zu müssen, fragte er: »Was ist mit dir? Du hast erzählt, du bist in einem Waisenhaus aufgewachsen?«
    Ihre Miene verdüsterte sich. »Meine Mutter war eine Prostituierte. Sie hat mich in einem Kloster ausgesetzt. Später hat sie sich den goldenen Schuss gesetzt und einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem ich erwähnt wurde. Wer mein Vater ist, weiß ich nicht.«
    »Oh …«, sagte Paulus.
    Sie lächelte. »Das muss dir nicht unangenehm sein. Meine Kindheit war nicht leicht, aber ich habe viel gelernt. Die ersten Jahre verbrachte ich bei den Nonnen. Die waren eigentlich nett zu mir, im Nachhinein betrachtet, aber ich hatte noch nie viel für Disziplin und Routine übrig. Als ich neun war, hatten sie die Nase voll von mir und haben mich in ein Waisenhaus gesteckt. Das war ein richtiges Dreckloch, kann ich dir sagen. Der Leiter hat sich ständigan kleinen Jungen vergriffen. Ich habe versucht, die anderen Erzieher darauf aufmerksam zu machen, aber entweder haben sie mir nicht geglaubt, oder sie haben einfach weggesehen.« Mele blickte einen Moment ins Leere, als überwältigten sie die Erinnerungen.
    »Als ich zwölf war«, fuhr sie fort, »kam ein neuer Junge in das Heim, höchstens sechs, und natürlich wollte sich der Mistkerl auch ihn vornehmen, gleich am ersten Tag. Ich habe mich dazwischengestellt. Als er versucht hat, mich

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