Die achte Offenbarung
jeweils eines, einer zwei und einer drei. Hatte das etwas zu bedeuten? Dirk hatte das Gefühl, irgendwo schon einmal so ein Wesen gesehen zu haben. Oder vielleicht hatte er auch darüber gelesen, in irgendeinem literaturwissenschaftlichen Werk. Er versuchte, sich zu erinnern, doch der Rotwein schien den Zugang zu seinem Gedächtnis überschwemmt zu haben.
»Wie auch immer, ich gehe jetzt ins Bett«, sagte er.
»Okay, gute Nacht!«, erwiderte Paulus.
Dirk setzte sich an seinen Schreibtisch und fuhr den Laptop hoch. Er gab »Zehn Hörner sieben Köpfe« bei Google ein und wusste eine Minute später, in welchem Text das merkwürdige Tier auftauchte. Es war die Offenbarung des Johannes – die Apokalypse, die Prophezeiung des Jüngsten Tages.
Er begann, systematisch nach Bildern mittelalterlicher Handschriften zu suchen, in denen die Apokalypse des Johannes wiedergegeben wurde. Es gab davon reichlich, doch die Illuminationen, die er fand, ähnelten der Zeichnung in Paulus’ Manuskript nur grob.
Nach etwa zwei Stunden Recherche entdeckte er endlichin der Online-Datenbank einer Bibliothek die Abbildung einer Seite aus einer Armenbibel, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts entstanden war. Dort stand es – das Tier mit den sieben Köpfen, zehn Hörnern und dem gefleckten Katzenkörper. Die Haltung des Wesens und selbst die Strichführung stimmten exakt überein.
Dirk wusste jetzt, wo sich das Schlüsselbuch befand.
Er dachte lange nach. Dann fuhr er den Laptop herunter.
17.
Köln, Dienstag 09:11
Paulus erwachte mit dröhnendem Schädel und einem pelzigen Geschmack im Mund. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo er war. Er richtete sich langsam auf der unbequemen Couch auf. Der Raum schien leicht zu schwanken, und sein Magen fühlte sich nicht gut an. Hatte er wirklich so viel getrunken?
Sein Blick fiel auf den Wohnzimmertisch, und im nächsten Moment waren Übelkeit und Kopfschmerzen vergessen.
Der Tisch war leer.
Paulus sprang auf und sah sich im Raum um. Von dem Manuskript und seinen Aufzeichnungen fehlte jede Spur.
Dirk! Er lief zum Zimmer des Studenten, klopfte, öffnete, ohne eine Reaktion abzuwarten.
Der Student war nicht da. Der Laptop, der normalerweise auf dem Schreibtisch stand, fehlte ebenfalls.
Verdammt!
Er klopfte an Meles Tür. »Mele? Wach auf!«
»Was’n los?«, klang es von drinnen.
Er öffnete. Mele lag angezogen auf dem Bett und blinzelte ihm entgegen. »Was ist denn?«, fragte sie unwirsch.
»Weißt du, wo das Manuskript ist?«
»Was?« Mele setzte sich auf, versuchte aufzustehen, sank jedoch wieder auf das Bett. »Au verdammt, mein Kopf!«
»Ich kann das Manuskript nicht finden«, rief Paulus. »Und Dirk ist nicht da. Sein Laptop fehlt auch.«
»Der ist bestimmt an der Uni.« Mele wankte an Paulus vorbei ins Badezimmer.
»Er hat das Manuskript und meine Aufzeichnungen weggenommen!«
»So ’n Quatsch!« Sie schloss die Badezimmertür.
»Hast du seine Handynummer?«
»Weiß nich«, erwiderte sie aus dem Bad. »Hängt vielleicht an der Pinnwand in der Küche. Gott, mir ist schlecht.«
Paulus rannte in die Küche. An der Pinnwand fand er neben ein paar Postkarten und einer uralten Küchendienst-Liste tatsächlich einen Zettel mit den Handynummern der WG-Bewohner. Meles Name stand nicht darauf.
Er wählte Dirks Nummer. Wie er befürchtet hatte, erreichte er nur die Mailbox. »Hallo, Dirk, hier ist Paulus. Ich gehe davon aus, dass du mein Manuskript bei dir hast. Ich mache dich darauf aufmerksam, dass es Diebstahl ist, wenn du mir das Buch nicht sofort zurückbringst. Ruf mich so schnell wie möglich an!« Er sprach sicherheitshalber seine Handynummer auf die Mailbox, obwohl Dirk diese auch auf seinem Display sehen konnte.
Er hörte die Klospülung. Kurz darauf kam Mele in die Küche geschlurft und durchwühlte die Schränke auf der Suche nach Kopfschmerztabletten.
»Dieser Mistkerl!«, rief Paulus. »Ich hätte ihm niemals vertrauen dürfen. Er war von Anfang an unfreundlich zu mir!«
»Reg dich doch nicht so auf. Und wenn, dann sprich wenigstens nicht so laut!«
»Ich soll mich nicht aufregen? Machst du Witze? Dein sauberer Mitbewohner klaut mir ein wertvolles mittelalterliches Manuskript, das meiner Großmutter gehörte, und ich soll ganz ruhig bleiben, ja?«
»Jetzt bleib mal auf dem Teppich«, sagte Mele, während sie zwei Brausetabletten in einem Glas Wasser löste. »Hast du mir nicht gestern noch erklärt, dass es gar nicht ausdem Mittelalter stammt?
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