Die achte Offenbarung
fest, dass sie Tränen in den Augenhatte. Diesmal schienen sie echt zu sein. »Du glaubst immer noch, das ist alles ein Spiel, oder?«, schluchzte Mele. »Du hältst die Männer, die hinter dem Buch her sind, für irgendwelche durchgeknallten Fanatiker. Du denkst, das alles ist so eine Art riesiges Missverständnis.«
»Richtig. Genau das denke ich. Die Geschichte ist voll von solchen Irrtümern. Etliche Kriege wurden aufgrund einer Verkettung von Fehlinterpretationen und Missverständnissen vom Zaun gebrochen.«
»Aber du irrst dich! Diese Sache ist viel größer, als wir beide ahnen. Dieses Buch ist wichtig, spürst du das denn nicht? Du hältst mich für skrupellos, aber das bin ich nicht. Ich bin nur bereit, zu tun, was getan werden muss, wenn die Zukunft der Menschen auf dem Spiel steht!«
»Nun hör aber auf! Die Zukunft der Menschheit hängt bestimmt nicht von einem Stapel mit Glyphen bekritzelter Pergamente ab, ganz egal, wer sie geschrieben hat und warum.«
Mele verschränkte die Arme vor der Brust. »Du willst es nicht wahrhaben, weil es nicht in dein Weltbild passt! Du bist genauso borniert wie die Leute, die Galilei auf den Scheiterhaufen gebracht haben!«
»Galileo Galilei endete nicht auf dem Scheiterhaufen. Er wurde unter Hausarrest gestellt und starb zehn Jahre nach seinem berühmten Prozess eines natürlichen Todes.«
»Von mir aus. Du weißt genau, was ich meine!«
»Ja, ich weiß, was du meinst. Aber nur, weil etwas nicht in mein naturwissenschaftliches Weltbild passt, ist es noch lange nicht wahr. Es gibt im Internet genügend Spinner, die allen möglichen Unfug behaupten. Und immer tun sie jede Kritik an ihren absurden Behauptungen mit der Begründung ab, diese sei einseitig, weil ihre Ideen nicht in das Weltbild der Schulwissenschaft passten. Und dannkommen sie mit Galilei oder Einstein und stellen sich auf eine Stufe mit denen. Dabei waren das Wissenschaftler, die eben genau das nicht getan haben – einfach irgendwelchen Unsinn behauptet. Sie haben Fakten beobachtet und aus diesen Fakten Schlüsse gezogen. Diese Schlüsse haben sie als Theorie dargestellt, nicht als unumstößliche Wahrheit. Sie haben die Kritik ihrer Zeitgenossen geradezu eingefordert und gemeinsam daran gearbeitet, eine noch bessere Theorie zu entwickeln. So funktioniert Wissenschaft. Alles andere ist Scharlatanerie!«
»Okay, kann sein, ich verstehe nicht so viel von Wissenschaft wie du. Aber nimm doch mal die Fakten: Es gibt ein rätselhaftes, verschlüsseltes Manuskript. Dein Freund, ein Experte für mittelalterliche Bücher, glaubt, dass es Jahrhunderte alt ist. In dem Buch wird die Zukunft vorhergesagt, und zwar äußerst präzise und korrekt. Und es gibt Leute, die dieses Buch mit aller Gewalt haben wollen. Welche Schlüsse würden Einstein oder Galilei aus diesen Fakten ziehen?«
»Keine Ahnung. Ich jedenfalls folgere daraus nicht, dass das Buch tatsächlich die Zukunft prophezeit.«
»Aber du kannst es nicht ausschließen, oder?«
»Nein, ausschließen kann ich es nicht. Ich kann auch nicht ausschließen, dass irgendwo zwischen Erde und Mars eine chinesische Porzellanteekanne die Sonne umkreist.«
»Eine was?«
»Das ist ein Gedankenexperiment des Philosophen Bertrand Russell. Er wollte damit sagen, dass etwas noch lange nicht wahr ist, nur weil man das Gegenteil nicht beweisen kann. Er hat das auf die Existenz Gottes bezogen, aber du kannst es genauso gut auf die angeblichen Prophezeiungen im Manuskript anwenden.«
Mele schien darauf keine Antwort einzufallen.
Sie fuhren schweigend über die Autobahn, jeder in seine Gedanken vertieft. Das Navigationssystem führte sie über mehrere Autobahnkreuze, bis sie schließlich auf einer relativ schwach befahrenen Autobahn durch bewaldete Hügel Richtung Südosten fuhren. Die Namen auf den Schildern der Ausfahrten hatte Paulus noch nie gehört: Arnsberg, Freienohl, Wennemen, Enste, Meschede. Schließlich endete die Autobahn abrupt in einem Ort namens Bestwig. Sie folgten einer Bundesstraße, die sich durch schmucke Dörfer voller schiefergedeckter Fachwerkhäuser wand. Paulus war noch nie im Sauerland gewesen. Er stellte fest, dass die Gegend sehr reizvoll war.
Sie durchquerten die Kleinstadt Olsberg und erreichten kurz darauf den Ortsteil Bruchhausen. Das Panorama, das sich ihnen bot, war eindrucksvoll: Das kleine Dorf lag zu Füßen einer flachen Bergkuppe. Vier gewaltige Felsblöcke erhoben sich darauf, die seltsam deplatziert wirkten, so als habe ein
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