Die achte Offenbarung
Riesenkind dort seine Bauklötze vergessen. Sie verliehen dem Ort eine mystische, fast übernatürliche Aura.
Paulus hatte schon von den Bruchhauser Steinen gehört. Sie hatten bereits lange vor der Ankunft der Römer als Kultstätte eine weit über die Region hinausreichende Bedeutung gehabt. Soweit er sich erinnerte, hatte man dort Reste einer eisenzeitlichen Fluchtburg gefunden. Manche Historiker vermuteten hier gar den Ort des germanischen Heiligtums Tamfana, das in den Schriften des römischen Geschichtsschreibers Tacitus erwähnt wurde. Es war kein Wunder, dass die eindrucksvollen Felsformationen die Menschen schon seit Urzeiten in ihren Bann zogen und auch heute noch Touristen anlockten.
Das Haus, in dem die Ferienwohnung der Mausers untergebracht war, lag am Ortsrand an einem Berghang genau unterhalb der Felsen. Als sie aus dem Mietwagen ausstiegen, glaubte Paulus hinter einem der Fenster im ersten Stock eine Bewegung wahrzunehmen.
25.
Olsberg-Bruchhausen, Mittwoch 17:38 Uhr
Dirk hob den Blick von dem Manuskript, mit dem er sich seit Stunden herumquälte. Die Entschlüsselung war deutlich mühsamer, als er gedacht hatte. Ohne Paulus’ geübte Anwendung der Tabellen war jeder Buchstabe ein umständliches mehrstufiges Heraussuchen, bei dem ihm immer wieder Fehler unterliefen. Der altertümliche Dialekt des Schreibers tat ein Übriges, um ihn zu verwirren. Er hatte erst ein paar Wörter entziffert und ins Hochdeutsche übertragen, seit er hier war:
Einer wird kommen, gelehrt im Glauben, doch wird er diesen verraten. Mit dem Schiff …
Sein Blick fiel zufällig aus dem Fenster auf die kleine Dorfstraße. Ein dunkler BMW mit Münchner Kennzeichen parkte gerade vor dem gegenüberliegenden Haus ein. Touristen? Unwahrscheinlich – die Leute, die hier Urlaub machten, kamen in der Regel aus dem Ruhrgebiet oder aus Holland. Vermutlich handelte es sich um einen Mietwagen.
Ein Schreck durchfuhr ihn. Seine Befürchtung wurde zur Gewissheit, als er Mele aus der Beifahrertür klettern sah.
Wie hatten sie ihn so schnell gefunden?
Sein Vater musste ihnen von der Wohnung erzählt haben. Wer wusste, was Mele dem naiven Trottel für ein Märchen aufgetischt hatte. Möglicherweise hatte er ihnen sogar einen Schlüssel gegeben.
Dirk überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Er hatte als Kind oft in den Wäldern hinter dem Haus gespielt und wusste, dass es dort unzählige Versteckmöglichkeiten gab. Wenn er sich beeilte …
Er begann, hastig die Unterlagen zusammenzuraffen und in die Laptoptasche zu stopfen. Gerade, als er das Manuskript dazulegen wollte, hörte er, wie die Haustür klappte.
Zu spät.
Er breitete die Unterlagen wieder auf dem Tisch aus, um einen möglichst unverfänglichen Eindruck zu erwecken. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, und sein Herz raste. Er fühlte sich wie ein Dieb, den die Polizei auf frischer Tat erwischte.
Schritte auf der Treppe, Schlüsselklirren an der Wohnungstür. Dirk starrte auf den Bildschirm des Laptops, als könne er dort die Lösung für seine Probleme finden.
Die Tür öffnete sich, und Paulus und Mele betraten den etwa dreißig Quadratmeter großen Raum, in dem eine offene Küche, ein Schlafsofa, eine Sitzgruppe, eine altmodische Schrankwand und der Esstisch untergebracht waren, an dem Dirk saß.
Er wandte sich zu ihnen um und tat überrascht. »Mele! Paulus! Wieso seid ihr hier? Ich hatte euch doch geschrieben, dass es besser ist, wenn …«
»Gib mir mein Buch!« Paulus’ Gesicht war zornverzerrt.
»Hey, beruhig dich! Ich wollte euch und das Buch nur vor diesen Typen schützen! Wenn ihr nicht hergekommen wärt, hätten die mich nie gefunden. Ich kann nur hoffen, dass sie euch nicht verfolgt haben!«
»Schwachsinn! Wir haben dich gefunden, also können sie es auch. Du kannst von Glück sagen, dass sie nicht vor uns hier waren. Und jetzt gib mir das Buch!«
Dirk stand auf und hob abwehrend die Hände. »Ich wollte doch bloß helfen!«, sagte er und wusste im selben Moment, wie jämmerlich das klang. Ohne nachzudenken, nahm er das Buch vom Tisch und presste es an seine Brust wie einen kostbaren Schatz.
Paulus baute sich drohend vor ihm auf. »Her damit!«
Dirk wich unwillkürlich an die Wand zurück. Er warf einen flehenden Blick zu Mele. »Okay, okay, es tut mir leid, ich hätte dir vorher Bescheid sagen sollen! Aber jetzt seid ihr ja hier, also können wir gemeinsam …«
»Einen Scheiß können wir!«, rief Paulus. »Du verarschst mich nicht noch ein
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