Die Achte Suende
Leintuch herauszuschneiden. Das Tuch wies ohnehin mehrere Schadstellen auf. Ich dachte, niemand würde das merken. Mit einer Klinge trennte ich also ein Stück Stoff ab, kaum größer als eine Briefmarke, und ließ es in meiner Jackentasche verschwinden.«
Der Gebrandmarkte griff in die Innentasche seines Sakkos und zog einen Cellophanbeutel hervor, in dem ein ausgebleichtes Stückchen Stoff zu erkennen war. Den hielt er Malberg wie eine Trophäe vor die Nase.
Malberg begann allmählich zu begreifen, worum es ging. Sekundenlang starrte er auf den Cellophanbeutel, sprachlos. Die Geschichte klang so abenteuerlich, dass es schwerfiel, sie zu glauben. Andererseits erschien sie so außergewöhnlich, dass er kaum an eine Erfindung glauben mochte.
»Ich brachte«, fuhr Brandgesicht schließlich fort, »das Original-Tuch fürs Erste in Sicherheit, indem ich es hinter einem Seitenaltar versteckte. Dann kam ich dem Wunsch meines Auftraggebers nach und zündete mithilfe eines Brandbeschleunigers das Altartuch unterhalb des Schreins an. – Wissen Sie, wie gut Altartücher brennen?«, fragte er in einem Anflug von Ironie. »Schauen Sie mich an, dann wissen Sie’s! Alles ging so schnell. Ehe ich mich versah, stand mein Oberkörper in Flammen. Vor Schmerz brüllte ich wie ein Schwein beim Schlächter und wälzte mich auf dem Boden. Irgendwie gelang es mir, meine brennende Kleidung zu löschen. Ich versteckte mich hinter dem Seitenaltar, wo ich das
echte
Tuch deponiert hatte, und wartete, bis der Brand bemerkt wurde und die Feuerwehr eintraf. In dem allgemeinen Chaos konnte ich den Dom unbemerkt mit meiner Beute verlassen. Jetzt können Sie sich vorstellen, dass der Auftrag nicht ohne Risiko war. Insofern waren die lumpigen fünfzig Millionen Lire meiner Auftraggeber eine glatte Unverschämtheit. Das wurde mir allerdings erst später klar.«
»Und was geschah mit der Kopie des Grabtuches? Ist die etwa verbrannt?«
Das Brandgesicht lachte gekünstelt. »Beinahe. Viel hätte nicht gefehlt, und die Flammen hätten auf den Schrein übergegriffen, in dem das Leintuch aufbewahrt wird. Nein, das Tuch wurde nur an einigen Faltstellen etwas versengt. Ober-und Unterseite tragen seither leichte Rußspuren. Aber das macht die Fälschung nur authentischer und lag durchaus in der Absicht meiner Auftraggeber.«
»Und das Original?«
»Am Original entstand nicht der geringste Schaden. Ich lieferte es am folgenden Tag zur gewünschten Zeit am gewünschten Treffpunkt ab und nahm mein Geld in Empfang. Und wissen Sie, wo?« Das Brandgesicht wandte sich um und wies mit einer Kopfbewegung zur
Pietà
des Michelangelo.
Die Fremdenführerin war mit ihrer Touristengruppe inzwischen weitergezogen. Für Augenblicke machte sich Stille breit. Malberg dachte nach. Er wusste nicht, wie er das Brandgesicht einschätzen sollte. Schon vom Äußeren her war dieser Mann nicht der Typ, mit dem man unbedingt Geschäfte machen wollte. Nichts sprach dagegen, das Brandgesicht einfach stehen zu lassen und zu verschwinden. Und doch gab es da etwas, was Malberg davon abhielt: eine Ahnung, dass das Zusammentreffen mit dem Gezeichneten kein Zufall war. Und dass der obskure Handel in einem ganz anderen Zusammenhang stand.
»Sie gestatten«, sagte Malberg höflich und wollte Brandgesicht den Cellophanbeutel aus der Hand nehmen.
Doch der zog das kostbare Objekt zurück. »Nein, ich gestatte nicht«, entgegnete er mit Bestimmtheit. »Das müssen Sie verstehen.«
In gewissem Maß hatte Malberg für seine Vorsicht sogar Verständnis. Zweifellos lag das Misstrauen auf beiden Seiten. Auf jeden Fall heuchelte Malberg Interesse an dem Geschäft.
»Wer garantiert eigentlich für die Echtheit dieses Stück Stoffes? Verstehen Sie mich recht, ich will Sie keineswegs als Betrüger hinstellen, aber wir kennen uns doch kaum!«
Brandgesicht nickte wie ein Beichtvater, der das Geständnis eines Sünders entgegennimmt. Und nachdem er den Cellophanbeutel in die linke Innentasche seiner Jacke gesteckt hatte, zog er aus der rechten einen gefalteten Umschlag und reichte ihn Malberg.
Der Umschlag enthielt drei Röntgenaufnahmen im Format dreizehn mal achtzehn Zentimeter. Die eine zeigte nebeneinander Vorder-und Rückseite des Turiner Tuches. Auf der zweiten war ein Ausschnitt des Tuches mit der Fehlstelle zu erkennen, die das Brandgesicht verursacht hatte. Die dritte Röntgenaufnahme zeigte maßstabsgetreu ebenjenes Stück Stoff, das Brandgesicht ihm zum Kauf anbot. Deutlich war die
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