Die Achte Suende
sollten sich den Weg gut einprägen«, bemerkte er, während sie zum wiederholten Mal eine Treppe hinaufstiegen und, oben angelangt, die Richtung änderten. »Im Übrigen dürfen Sie nicht erschrecken über das scheinbare Chaos in unserem Archiv. In Wahrheit herrscht in den Räumen eine schöpferische Unordnung. Jedes Mitglied der Bruderschaft legt seine Unterlagen, Bücher und Dokumente an einem bestimmten, ihm zugewiesenen Platz ab. Nur Nachschlagewerke und Lexika stehen in einem gesonderten Raum der Allgemeinheit zur Verfügung.«
Ein eigenartiges System für ein Archiv, dachte Malberg. Aber in diesen Mauern war alles ziemlich eigenartig.
Den komplizierten Weg zum Archiv hatte Malberg längst aus dem Gedächtnis verloren, als sie im sechsten Stockwerk durch einen Türbogen in einen weiß gekalkten Raum gelangten, dessen Grundriss ein großes lateinisches D beschrieb. Der Zugang lag genau in der Mitte der Rundung, und vom senkrechten Balken führten zwei weitere Türbögen zu einer Abfolge ineinander übergehender Räume.
Es roch nach Staub und dem unbeschreiblichen Duft, der von alten Büchern ausgeht. Ein kurzer Blick in den ersten Raum genügte, um festzustellen, dass die meisten Bücher viel älter als die Burg in ihrem heutigen Zustand und damit sehr kostbar waren.
»Das also ist Ihr Arbeitszimmer«, bemerkte Anicet und drehte sich mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse.
Die einzige Möblierung bestand aus einem langen, schmalen Tisch, wie er im Refektorium mittelalterlicher Klöster zu finden ist, und einem Stuhl mit geschnitzten Armlehnen. Weil das Zimmer durch ein schmales Fenster zur Linken nur unzureichend beleuchtet wurde, erhellten grelle Neonleuchten den Raum – nicht gerade passend, aber zweckmäßig.
»Und wo ist das Mendelsche Buch?«, erkundigte sich Malberg ungeduldig.
Anicet zog die Augenbrauen hoch und verschwand in der rechten Archivtür. Als er zurückkehrte, umklammerte er das eher unscheinbare Buch wie eine Trophäe. Schließlich legte er es andächtig auf den Tisch.
Malberg setzte sich und schlug die Titelseite auf. Als Antiquar begegnete er jedem alten Buch, das er zum ersten Mal in die Hand nahm, mit Ehrfurcht und einer gewissen Entdeckerfreude. Doch dieses Buch war etwas ganz Besonderes. So weit es die Kürze der Zeit erlaubte, hatte er sich mit entsprechender Literatur und neuesten Arbeiten über Kryptologie eingedeckt.
Gregorius Mendel
Peccatum Octavum
stand auf dem Titelblatt in lateinischer Sprache zu lesen. Die achte Sünde.
Aber das war auch schon das einzig Verständliche in diesem Buch. Bereits die folgende Seite, vermutlich mit dem Vorwort, setzte sich aus einem undurchschaubaren Kauderwelsch zusammen.
»Gestatten Sie mir eine Frage«, wandte sich Malberg an Anicet. »Was erwarten Sie sich von der Entschlüsselung dieses geheimnisvollen Buches?«
Anicet nestelte nervös an den Knöpfen seines Gehrocks, und Malberg fand eine gewisse Genugtuung, dass es ihm offenbar – wenn auch ohne Absicht – gelungen war, diesen selbstsicheren, arroganten Mann aus der Fassung zu bringen.
»Das werden Sie noch früh genug bemerken«, antwortete er schließlich. Und beinahe kleinlaut fügte er hinzu: »Bitte haben Sie dafür Verständnis. Wenn es Ihnen gelingt, Mendels Forschungsergebnisse zu entschlüsseln, dann wissen Sie ohnehin, worum es geht. Sollten Sie aber scheitern, dann würde das weder Sie noch die Bruderschaft belasten. Wann wollen Sie mit der Arbeit beginnen?«
»Gleich morgen früh.«
»Dann viel Glück!« Er verschwand, noch ehe Malberg die Frage vorbringen konnte, wie er sein Zimmer wiederfinden sollte.
Die letzten drei Flure und zwei Treppen hatte er im Gedächtnis behalten. Dann aber verlief er sich, denn er konnte sich plötzlich nicht erinnern, vorher an dieser Stelle gewesen zu sein. Als er nach einer Weile erneut an seinem Ausgangspunkt landete, beschloss er, es in entgegengesetzter Richtung zu versuchen und sich beim nächsten Quergang statt nach rechts nach links zu wenden.
Ein Hüne von Mann, dem er dabei über den Weg lief, nickte nur kurz, ohne ihn anzusehen. Er schien mit seinen Gedanken weit weg, und Malberg wagte nicht, ihn anzusprechen.
Irgendwie gelang es Malberg dann doch, sein Zimmer mit dem Salamander zu finden. Als er die Tür öffnete, erschrak er: Gruna hatte es sich auf seinem Sofa bequem gemacht.
»Ich vergaß zu erwähnen«, sagte er mit größter Selbstverständlichkeit, »dass Sie sich Ihr Essen aufs Zimmer bestellen müssen,
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