Die Achte Suende
wuchtete seine Reisetasche auf den Rücksitz des Wagens. Dann nahm er neben dem Fahrer Platz.
Der Fahrer musterte ihn misstrauisch von der Seite. In rheinischem Dialekt meinte er schließlich: »Ich kann Sie aber nur bis zur Weggabelung bringen. Dort muss ich wieder umdrehen. Das letzte Stück müssen Sie wohl oder übel zu Fuß zurücklegen.«
»Warum denn das?«, entgegnete Malberg verärgert. Nach der langwierigen Zugfahrt mit zweimal Umsteigen war seine Laune ohnehin nicht die beste. Zudem pfiff ein kalter Wind über den Bahnhofsvorplatz von Lorch.
»Sie waren wohl noch nie auf Burg Layenfels?«, erkundigte sich der Taxifahrer vorsichtig.
»Nein, warum?«
Der Taxifahrer schnaufte laut durch die Nase. »Es geht mich ja nichts an, aber dann werden Sie auch dort nicht reinkommen. Die Bruderschaft hat sich total abgeschottet. Sie lassen niemanden in ihre Burg. Erst recht kein Taxi. Und weil das letzte Wegstück bis zum Burgtor durch eine Schlucht führt, gibt es keine Möglichkeit zu wenden. Verstehen Sie jetzt, warum ich Sie an der Gabelung absetzen muss?«
»Schon gut«, knurrte Malberg. »Nun fahren Sie schon. Dann eben so weit Sie können.«
»Wie Sie wünschen«, erwiderte der Taxifahrer in einem Anflug von Freundlichkeit, und dabei grüßte er militärisch, indem er die flache Hand seitlich an die Stirn legte.
»Kennen Sie jemanden von der Bruderschaft?«, fragte Malberg, während der Fahrer seinen betagten Diesel bergan quälte.
»Gott bewahre! Man weiß eigentlich nichts über diese Leute. Aber Einheimische, die dem einen oder anderen begegnet sein wollen, behaupten, sie sähen aus wie ganz normale Menschen.«
»Wie sollten sie denn Ihrer Meinung nach aussehen?«
»Wie Genies eben, mit großen Köpfen oder – ich weiß auch nicht. Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist.«
»Ach. Was reden Sie denn?«
»Zum Beispiel, dass die da oben auf einem riesigen Goldschatz sitzen. Oder dass sie verbotene Dinge erforschen. Oder dass sie jeden umbringen, der ohne Aufforderung ihren Boden betritt.«
»Und das glauben Sie?«
Der Taxifahrer hob die Schultern. »Seit die hier sind, gab es eine Reihe rätselhafter Todesfälle. Zuletzt erst vor wenigen Tagen, als ein Monsignore aus Rom in seinem Auto verbrannte. Aber wie immer verliefen alle Spuren im Sand.«
Gerne hätte sich Malberg mit dem Taxifahrer noch länger unterhalten, aber der brachte jetzt den Wagen auf der Schotterstraße zum Stehen, kurbelte das Seitenfenster herunter, streckte den Arm aus und deutete in Richtung des dichten Unterholzes, das den schmalen Weg zu beiden Seiten säumte: »Folgen Sie einfach dem Weg. Er endet am Burgtor. Man kann sich nicht verlaufen. Viel Glück!«
Die Worte des Fahrers klangen nicht gerade ermutigend.
Malberg stieg aus, nahm seine Reisetasche, in der er neben dem Nötigsten ein paar nützliche Bücher verstaut hatte, und steckte dem Fahrer einen Schein zu. Der nickte, wendete sein Fahrzeug und fuhr davon.
Auf einmal war es still, beinahe unheimlich still. Leise raschelte der Herbstwind in den Bäumen. Es roch nach feuchtem Waldboden. Der letzte Regen hatte tiefe Furchen in den unbefestigten Weg gewaschen. Das machte den Anstieg beschwerlich.
Während Malberg missmutig bergan stapfte, kamen ihm Zweifel, ob er nicht besser auf Caterina gehört und Anicet das Geld zurückgegeben hätte. Er hatte keine Ahnung, was wirklich auf ihn zukam, ob es ihm überhaupt gelingen würde, das mysteriöse Buch von Gregor Mendel zu entschlüsseln. Wäre es nur um das Buch und um nichts anderes gegangen, er hätte sicher kehrtgemacht.
Aber da war dieser seltsame Drang, eine unerklärliche Ahnung, die ihn vorantrieb. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er einem undefinierbaren Gefühl mehr vertraute als den Fakten. Denn alles, was Caterina von Signora Fellini erfahren hatte, ließ sich lückenlos in seine eigenen Ermittlungen einordnen. Alles machte Sinn.
Im Wirrwarr seiner Gedanken erreichte Malberg sein Ziel schneller als erwartet. Nach einer Wegbiegung mit Büschen und knorrigem Astwerk auf beiden Seiten wuchs plötzlich vor ihm die gewaltige Burganlage aus dem Boden. Das hohe, spitzbogige Burgtor mit dem eisernen Fallgitter war ihm nicht fremd. Malberg kannte es von dem Foto in der Illustrierten.
Im diffusen Licht des windigen Herbsttages suchte er, die Hand schützend über den Augen, vergeblich nach dem Schild mit dem runenhaften Kreuzzeichen. Seine Blicke bohrten sich förmlich in das Mauerwerk über dem
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