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Die Achte Suende

Die Achte Suende

Titel: Die Achte Suende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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erkannte. Denn mehr als der Tremor seiner Glieder beunruhigte den Kardinal die Umgebung, in der er sich befand. Der kahlköpfige Philippo Gonzaga hing, mit gefalteten Händen gefesselt, an einem Fleischerhaken. Nur mit Mühe fanden seine Füße auf dem glatten Zementboden Halt. Links und rechts von ihm baumelten senkrecht geteilte Schweinehälften an gleichen Haken. Es roch nach geronnenem Blut. Und die Kälte in dem Raum machte jeden Atemzug sichtbar wie beim Winterspaziergang in den Albaner Bergen. Neonleuchten tauchten das Fleisch, das tonnenweise von der niedrigen Decke hing, in ein erbarmungsloses Licht.
    Hilflos zerrte Gonzaga an dem Fleischerhaken, an dem er gefesselt war. Ein schmerzhaftes Unterfangen, denn die Plastikriemen schnitten bei jeder Bewegug noch tiefer ins Fleisch.
    Zitternd vor Kälte versuchte der Kardinal nachzudenken. Das gelang nur ansatzweise. Ein eisiges Gebläse schaltete sich ein und verbreitete einen Kälteschwall, der sein Zittern noch verstärkte. Gonzaga wusste nicht, wie lange er schon in der Kälte hing. Sein Kopf begann zu schmerzen. Die Arme spürte er nicht mehr. An seinen Beinen kroch die Kälte hoch wie die glibberigen Arme eines Kraken.
    Gonzaga war nur noch zu zwei Gedanken fähig. Der erste: Wer steckt hinter diesem Anschlag? Und – in einigem Abstand – der zweite: Sie werden dich nicht töten – warum sollten sie einen solchen Aufwand betreiben, um dich ins Jenseits zu befördern?
    Aus einem Lautsprecher, der irgendwo in der Decke des Kühlraumes eingelassen war, vernahm der Kardinal ein Knacken, und kurz darauf ertönte eine verfremdete männliche Stimme: »Sie sind sich hoffentlich Ihrer Situation bewusst, Gonzaga. Die Temperatur in Ihrem Gefängnis beträgt zurzeit vier Grad minus. In den kommenden neunzig Minuten wird die Temperatur bis auf minus achtzehn Grad absinken. Ich fürchte, Ihr schwarzer Anzug ist für diese Temperatur nicht die richtige Kleidung.«
    »Hören Sie«, gab der Kardinal zurück, und dabei klang seine Stimme, als redete er in einen leeren Eimer: »Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie vorhaben, aber ich bin überzeugt, Sie wollen mich nicht töten.«
    »Da wäre ich mir nicht so sicher«, antwortete die Stimme aus dem Lautsprecher. Gonzaga glaubte den Tonfall mit der deutlichen Betonung der Vokale schon einmal gehört zu haben. Aber wo?
    »Nach dreißig Minuten bei minus achtzehn Grad«, fuhr die Stimme fort, »hat sich der Herzschlag so verlangsamt, dass Sie das Bewusstsein verlieren. Nach weiteren zwanzig Minuten erfolgt der Herzstillstand. In zwei bis drei Wochen wird man Ihr Fleisch mit den anderen Schweinehälften in eine Großfleischerei in Civitavecchia transportieren zur weiteren Verarbeitung. Sie sollten sich also überlegen, ob Sie hier den Helden spielen wollen.«
    »Was wollen Sie?«, fragte Gonzaga mit zittriger Stimme. »So reden Sie schon!«
    »Das — Tuch — aus — Turin!« Der Sprecher betonte jede einzelne Silbe.
    »Das wird nicht möglich sein.«
    »Was soll das heißen?«
    »Das Grabtuch unseres Herrn befindet sich nicht mehr im Vatikan.«
    »Hören Sie gut zu, Gonzaga!« Der Tonfall der Stimme wurde heftiger. »Wir verhandeln hier nicht über die Kopie! Ich rede vom Original.«
    »Das Original befindet sich in Deutschland.«
    »Eben nicht, Gonzaga, eben nicht!«
    So weit es die tiefgekühlten Windungen seines Gehirns überhaupt noch zuließen, kam dem Kardinal der Gedanke, dass nur die Bruderschaft der Fideles Fidei Flagrantes hinter der Entführung stecken konnte. Er versuchte sich an Anicets Stimme zu erinnern. Aber der Versuch misslang. Schließlich meinte er: »Wie können Sie da so sicher sein?«
    »Gonzaga, Sie sollten selbst weniger Fragen stellen und dafür die meinen beantworten. Mir scheint, die Jahre im Purpur haben Ihnen den Sinn für die Realität geraubt. Sie haben noch etwa achtzig Minuten, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Achtzig Minuten, die über Ihr Leben entscheiden. Ich kann mir schwer vorstellen, dass Sie es darauf anlegen, ins
Martyrologium Romanum
aufgenommen zu werden.«
    Gonzaga stutzte. War es doch Anicets Stimme? Auf jeden Fall benutzte der Sprecher einen Terminus, der theologische Bildung voraussetzte. Das
Martyrologium
, erstmals gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts veröffentlicht, führt alle von der Kirche anerkannten Heiligen und ihre Gedenktage auf.
    »Ein tiefgekühlter Märtyrer wäre auf jeden Fall etwas Neues!«, legte der Unbekannte nach.
    »Hören Sie auf!« Gonzaga

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