Die Achtsamkeits-Revolution
fortschreitender Praxis die Dauer Ihrer Sitzungen in dem Maße, wie Sie die Achtsamkeit relativ frei von Laschheit und Erregung aufrechterhalten können.
BETRACHTUNGEN ZUR PRAXIS
Am maßgeblichsten finden sich die fortgeschritteneren Phasen dieser Shamatha-Praxis der Achtsamkeit auf die Atmung in Buddhaghosas klassischem Werk Der Weg zur Reinheit beschrieben. 39 Während dieser Autor bestimmte Arten taktiler Sinneswahrnehmungen zu den in Verbindung mit der Atem-Praxis erlangten Zeichen rechnet, hebt die indotibetische Mahayana-Tra- dition hervor, dass man auf dem Weg zu Shamatha nur dann die fortgeschritteneren Stufen erlangt, wenn man den Fokus auf ein geistiges Objekt richtet und nicht auf einen Sinneseindruck. 40 Der Grund dafür liegt darin, dass die Entwicklung von Shamatha die Entfaltung und Pflege eines außerordentlich hohen Grades an Achtsamkeitsschärfe beinhaltet. Wenn man sich auf ein Objekt der physischen Sinne fokussiert, kann man mit Sicherheit Stabilität gewinnen, aber die Achtsamkeitsschärfe wird dabei nicht in ihrem vollen Potenzial entwickelt. Dafür braucht es ein geistiges Objekt. In der buddhistischen Tradition wird allgemein darauf hingewiesen, dass man Shamatha durch mentales Gewahrsein und nicht durch sensorisches Gewahrsein erreicht.
Die Praxis der Achtsamkeit auf die Atmung hat ihre Wurzeln in den Lehren Buddhas, die in Pali niedergeschrieben und später von Gelehrten und Kontemplativen des Theravada kommentiert wurden. Aber auch in den Buddha zugeschriebenen Lehrreden der Mahayana-Tradition wird diese Art der Entwicklung von ausgewogener Achtsamkeit hervorgehoben. So erläutert der Buddha zum Beispiel in seinem Sutra von der Essenz der Weisheit seinem Jünger Shariputra die Achtsamkeit auf die Atmung mit Hilfe des Vergleichs mit einem Töpfer an seinem Töpferrad.
Shariputra, nimm zum Vergleich einen Töpfer oder einen Töpferlehrling, der das Töpferrad dreht: Wenn er eine lange Umdrehung macht, weiß er, dass sie lang ist; wenn er eine kurze Umdrehung macht, weiß er, dass sie kurz ist. In gleicher Weise, Shariputra, atmet ein Bodhisattva, ein großes Wesen, achtsam ein und achtsam aus. Wenn die Einatmung lang ist, weiß er, die Einatmung ist lang; wenn die Ausatmung lang ist, weiß er, die Ausatmung ist lang. Wenn die Einatmung kurz ist, weiß er, die Einatmung ist kurz; wenn die Ausatmung kurz ist, weiß er, die Ausatmung ist kurz. So, Shariputra, beseitigt ein Bodhisattva, ein großes Wesen, in der Selbstbeobachtung und Achtsamkeit verweilend, Gier und Enttäuschung gegenüber der Welt durch Nichtvergegenständlichung; und er lebt in beobachtender Wahrnehmung des Körpers im Körper. 41
Diese wundervolle vielschichtige Passage verlangt nach einem detaillierten Kommentar, aber für den Augenblick will ich mich auf ein paar Bemerkungen beschränken. Selbstbeobachtung (engl, in- trospection ) ist eine mentale Fähigkeit, die die Funktion der Uber- wachung des Zustands von Körper und Geist hat. Mit Hilfe dieser Fähigkeit bemerken wir es, wenn der Geist sich der Laschheit oder Erregung ergeben hat; und wenn wir es bemerkt haben, müssen wir unbedingt sofort alles Notwendige tun, um diese Unausgewo- genheiten zu beheben. Achtsamkeit und Selbstbeobachtung gehen Hand in Hand, wie im obigen Abschnitt und in zahllosen anderen buddhistischen Meditationsabhandlungen beschrieben. Während die moderne Vipassana-Tradition hervorhebt, dass wir bei der Achtsamkeits-Praxis unsere Fehler akzeptieren und nicht den Ver such unternehmen sollen, an ihnen etwas zu ändern 42 , bedeutet dieser Rat ein Abgehen von Buddhas Lehren und den Schriften der großen Meister der Vergangenheit. Wenn Sie Ihre Achtsamkeit, sobald sie in Laschheit oder Erregung verfallen ist, nicht wieder ausbalancieren, werden sich diese mentalen Unausgewogenheiten nur noch verstärken und die Qualität Ihrer Achtsamkeit wird auf ewig mit Makeln behaftet sein. Der Begriff »Nichtvergegenständlichung« in der obigen Passage bezieht sich darauf, dass man sich nicht mehr an äußere Gegenstände und Ereignisse als wahre Ursachen unserer Freuden und Leiden klammert. Vielmehr erkennen wir, dass diese Gefühle in unserem eigenen Geist entstehen. Eine Einsicht, die die quälenden Geisteszustände von Gier, Habsucht und Enttäuschung heilt, die entstehen, wenn wir in unseren Wünschen behindert werden.
Ich kenne eine ganze Reihe tibetischer Buddhisten, die Shamatha durch die Konzentration auf ein bewusst erzeugtes oder visua-
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