Die Achtsamkeits-Revolution
Vorstellungen und Konzepten befasst.
Im Werk Milindapanha (»Fragen des Milinda«) findet sich möglicherweise der früheste Versuch buddhistischer Literatur, den Begriff Sati umfassend zu erläutern. Von König Milinda gefragt, welche charakteristische Eigenschaft die Achtsamkeit (Sati) hat, gibt der Mönch Nagasena zur Antwort: »Die Eigenschaft, nichts aus dem Gedächtnis entfahren zu lassen ... und die Eigenschaft des Festhaltens«. Und er fährt fort zu erklären: »Solange die Achtsamkeit gegenwärtig ist, o König, lässt sie nichts von allen den Dingen aus dem Gedächtnis entfahren, weder gute noch schlechte, tadelige noch untadelige, noch die Gegensätze von Gut und Böse ... Wenn die Achtsamkeit gegenwärtig ist, o König, erforscht man den Ausgang der heilsamen und schädlichen Dinge - ob diese oder jene Dinge heilsam oder unheilsam, nützlich oder schädlich sind.« 35
In diesen frühesten und maßgeblichsten Berichten bedeutet Sati also nicht, dass man sich urteilslos des Etikettierens und Kategori- sierens der Wahrnehmungen und Erfahrungen enthält, sondern dass man zwischen heilsamen und unheilsamen, nützlichen und schädlichen Tendenzen unterscheidet. Ein höchst auffälliger Kontrast zwischen den alten und modernen Auffassungen. Mit gewohnt präziser Sorgfalt schreibt Buddhaghosa, der maßgeblichste Kommentator der Theravada-Tradition: Als »Achtsamkeit« {sati] urspr. Erinnerung, dann Eingedenksein, Gegenwärtigsein usw.) gilt das, auf Grund dessen man eingedenk ist, oder das, was selber eingedenk ist, oder einfach die bloße Tatsache des Eingedenkseins. Ihr Merkmal besteht darin, dass sie nicht verschwimmt (,apilapana), ihr Wesen, dass sie nicht vergisst, ihre Äußerung, dass sie einen Schutz bietet oder das Objekt vor Augen hat, ihre Grundlage in klarer Wahrnehmung oder in den Grundlagen der Achtsamkeit, d. i. der Betrachtung über Körper, Gefühl, Bewusstsein und Geistobjekte. Wie einen Pfeiler hat man die Achtsamkeit zu betrachten, da sie fest auf dem Objekt gegründet ist; oder wie einen Torhüter, insofern sie über die Sinnenpforten wacht.« 36
Die moderne Definition und Praxis der Achtsamkeit hat ganz sicher ihren Wert, wie Tausende aufgrund eigener Erfahrungen entdeckt haben. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass dieses moderne Verständnis von Buddhas eigener Erklärung zu Sati und den Erläuterungen der maßgeblichsten Kommentatoren innerhalb der Theravada- und indischen Mahayana-Traditionen abweicht. Achtsamkeit wird in der Shamatha-Praxis kultiviert und in der Praxis der kontemplativen Einsicht (Pali: vipassana-, Sanskrit: vipa- shyanä) angewandt. Das wird in der grundlegendsten aller Darlegungen Buddhas zur Praxis der kontemplativen Einsicht ganz klar aufgezeigt, nämlich in seiner Lehrrede von den »Grundlagen der Achtsamkeit« (Satipatthana Sutta)? 1 Im Kontext dieser Einsichts- Meditationen wird die unterscheidende Achtsamkeit auf den Körper, die Gefühle, die Geisteszustände und -Vorgänge und die Erscheinungen im Allgemeinen gerichtet. Der Buddha führt uns hier durch eine detaillierte Untersuchung der Entstehung, des gegenwärtigen Vorhandenseins, des kausalen Wirkens und der Auflösung all dieser Wahrnehmungs- und Erfahrungsbereiche. Im Ergebnis stellt sie eine rigorose kontemplative Wissenschaft des Geistes und seiner Beziehung zum Körper und zur Umwelt dar. Mit dieser Disziplin verbindet sich also sehr viel mehr als nur bloße Achtsamkeit, was uns Buddhaghosa in seinem maßgeblichen Kommentar zu diesem Thema reichlich klar vor Augen führt. 38
Wie bereits erwähnt, erlangen Sie auf der vierten Stufe der Sha- matha-Praxis die Kraft der Achtsamkeit und die Praxis ist nun fest in sich gegründet. Die Achtsamkeit neigt nicht mehr zu grober Erregung, ist aber immer noch mit einem mittleren Grad der Erregung und mit grober Laschheit behaftet. Beim Auftreten von mittlerer Erregung verlieren wir nicht mehr ganz und gar den Kontakt mit dem Objekt, auf das unsere Achtsamkeit gerichtet ist, aber die unfreiwilligen Gedanken stehen im Mittelpunkt und der Meditationsgegenstand ist an den Rand gedrängt. Wenn wir uns hier noch einmal der Analogie von der Einstellung eines Radiosenders bedienen wollen, könnte man die grobe Erregung damit vergleichen, dass wir den Sender gar nicht mehr hereinkriegen, weil der Tuner entweder zu einem anderen Sender springt oder ins bloße Rauschen gleitet. Mittlere Erregung wäre so, wie wenn wir leicht in die Richtung eines
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