Die Achtsamkeits-Revolution
Ahnung von diesem Gleichmut vermitteln. In meinem Leben ereignete sich ein solcher Vorfall, als ich an der University of California in Santa Barbara lehrte und eingeladen wurde, bei der alternativen Abschlussfeier eine Rede zu halten. Die Tradition dieser alternativen Zeremonie wurde in den sechziger Jahren eingeführt, als eine kleine Gruppe von UCSB-Studenten eine andere Art von Abschlussfeier organisierte, bei der von Freunden, Eltern oder Geschwistern auf jeden Studenten eine Lobrede gehalten wird, bevor er oder sie das Diplom in Empfang nimmt. Die Zeremonie dauert endlos, während man sich anhört, wie jede dieser Personen die großartigste Tochter, der beste Surfkumpel, die hingebungsvollste Aktivistin, der inspirierendste Freund oder die höchst geschätzte Geliebte ist. Alle diese Eindrücke, die eine jede dieser Personen bei einem anderen Menschen hinterlassen hatte, brachten mich zu der Erkenntnis, dass jene Universitätsabsolventen nur umständehalber Fremde für mich waren. Ein kleine Veränderung hätte ausgereicht, und jeder von ihnen hätte mir nahestehen können. Das gilt für jeden Menschen auf der Welt. Nur eine kleine Veränderung der Umstände und jede Person, die uns ein fremder Mensch zu sein scheint, könnte uns - mit ihren Hoffnungen, Ängsten und Sehnsüchten - ein lieber Freund sein.
Als ich mich zum ersten Mal hoch in den Bergen oberhalb von Dharmasala in eine Meditationshütte zurückzog, suchte ich den tibetischen Eremiten Gen Jhampa Wangdü auf. Er war im Frühjahr 1959, kurz nach dem Aufstand der Tibeter gegen die Besetzung Tibets durch die Kommunisten, aus seiner Heimat geflohen und lebte nun als Yogi in Indien. Mein erster Antrittsbesuch bei ihm machte großen Eindruck auf mich. Da er sich in keinem strikten Retreat befand, wusste ich, dass ich ihn nicht stören würde, wenn ich um die Mittagszeit kam. Ich klopfte an seine Tür. Ein klein gewachsener Mann, der ein bisschen wie Yoda aus den Star Wärs-Filmen aussah, öffnete. Sein Gesicht war erfüllt von einem breiten, warmherzigen Lächeln, so als wäre ich sein schon seit langem verschollener Sohn, der endlich nach Hause zurückkehrte. Er strahlte Fröhlichkeit, Freundlichkeit und Güte aus. Er lud mich ein, hereinzukommen, und bot mir Tee an. Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht das Gefühl gehabt, dass ich etwas Besonderes sei oder er mich besonders gernhätte. Jhampa Wangdüs Mitgefühl und Herzenswärme waren echt, aber mir wurde klar, dass seine Zuneigung frei von jedweder persönlichen Anhaftung war. Ich gehe davon aus, dass jedermann auf die gleiche Weise von ihm aufgenommen worden wäre. Aber diese Erkenntnis machte seinen Empfang um nichts weniger liebenswert. Es war eine Erfahrung von bedingungsloser Liebe, der Schlüssel zum Glück unter jedweden Umständen. So bewahren sich in der Zurückgezogenheit lebende Kontemplative trotz der Abgeschiedenheit und Härte ihres Daseins ihre Verbindung mit anderen.
Hochentwickelte Kontemplative sind auch bemerkenswert frei von Ungeduld. Bei ihnen findet sich keine Haltung von »Haben wir's denn jetzt dann bald?«. Meditation ist ihre Lebensweise. Sie meditieren vielleicht täglich zwölf Stunden oder noch länger ... bis sie Erleuchtung erlangt haben. Das ist einfach ihre tägliche Routine. Sie warten nicht auf den Erfolg, blicken nicht sehnsüchtig auf ihren Kalender und erhoffen rasche Resultate. Das tibetische Verb drupa, das gewöhnlich mit »praktizieren« übersetzt wird, bedeutet auch etwas »erreichen, erlangen«. Wenn man einen Kontemplativen fragt: »Was machst du?«, könnte er antworten: »Ich praktiziere/erlange Shamatha.« Praktizieren und Erlangen sind ein und dasselbe. Angesichts der Lebensumstände, in denen sich die meisten von uns befinden, unserer Jobs und Familienverpflichtungen, ist es sehr wichtig, dass wir die Weisheit der buddhistischen Lehren in unseren Alltag integrieren, sodass wir, wie erfahrene Kontemplative, unser Leben lebend »praktizieren/erlangen«. Das setzt voraus, dass wir ein umfassendes Gefühl dafür entwickeln, was spirituelle Praxis beinhaltet. Sie bedeutet nicht nur, auf dem Sitzkissen zu meditieren. Sich auszuruhen, spazieren zu gehen oder Musik zu hören ist für Körper, Geist und Herz gut; und wenn eine altruistische Motivation uns inspiriert, kann das ganze Leben von spiritueller Praxis durchdrungen sein.
Aus Sicht der modernen Psychologie ist die Tatsache erstaunlich, dass Kontemplative jahrelang in einsamer
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